Vorbemerkung, da die Autorin polarisiert: Wenn Du das Buch nicht wenigstens in längeren Auszügen gelesen hast, dann halte Dich bitte mit positiver wie negativer Kritik zurück, auch dumme Kampfbegriffe wie Sahrrazin und Flügelknecht zeugen mehr von der Borniertheit des Schreibers als von sonst irgendetwas.
Danke.
Wagenknecht stellt fest, daß die linke Bewegung nicht mehr diejenigen repräsentiert, die früher ihre Klientel waren: Arbeiter, kleine und mittlere Angestellte, Kleinselbständige, Nicht-Akademiker. Sie belegt und das ist ja kein Geheimnis): Genau diese Klientel, die früher eher links gewählt hat, wählt heute rechts — die AfD ist eine Arbeiterpartei.
Sie fragt, warum? Die Anfänge liegen ihr nach in den Aufstiegen der brutalkapitalistischen Modelle, für die zuerst Reagan und Thatcher, später auch Blair und Schröder standen: Privatisierung gemeinschaftlicher Aufgaben, Öffnung der Finanzmärkte, Kampf gegen die Gewerkschaften, Förderung des Niedriglohnsektors, Globalisierung.
Globalisierung bedeutet: Unternehmen gehen dorthin, wo die Lohnkosten geringer sind — oder holen sich Billigarbeiter ins eigene Land. Tönnies wäre nicht in kurzer Zeit Milliardär geworden, wenn rot/grün es nicht ermöglicht hätte, daß rumänische Hilfsarbeiter ohne jede Rechte, nämlich mit Werkverträgen, ihm zu Löhnen weit unterhalb des gesetzlichen Mindestlohnes die Schweine schlachten und zerschnippeln.
Laut Wagenknecht haben die “einfachen Leute”, also obige Arbeiter etc., seit den 80-ern massiv an sozialer Sicherheit und Aufstiegschancen verloren. Im Gegenzug gibt es natürlich auch Gewinner: eine reiche Oberschicht sowieso, aber auch die gehobene, urbane akademische Mittelschicht. Die Schicht, in der es zur Normalität gehört, wenigstens ein Auslandssemester absolviert zu haben, um Gottes Willen auf gar keinen Fall in der Platte zu wohnen, gerne eine polnische Putzhilfe zu beschäftigen und die Aldi-Schnitzel natürlich nicht ißt.
Apropos: Interessant fand ich, daß der Anteil am Verkaufspreis, den der Bauer bekommt, in den letzen Jahrzehnten um ‑zig Prozent gesunken ist. Fragt sich, ob das Schnitzel wirklich zu billig ist — oder ob nicht vielmehr die Profite der Zwischenhändler und Weiterverarbeiter unverschämt gestiegen sind?
Diese akademische Mittelschicht ist es, die heute das definiert, was als “links” wahrgenommen wird in der Öffentlichkeit. Wagenknecht nennt diese Linke eine “Lifestyle-Linke” Ich finde den Begriff irgendwie unelegant, aber er paßt. Es geht dieser Linken nicht mehr um eine Änderung/Verbesserung der sozialen Verhältnisse, es geht oftmals nur darum, den eigenen richtigen Standpunkt (“richtig” für die anderen in der Filterblase) zu dokumentieren. Die im Schatten werden schon lange nicht mehr gesehen. Nur: Diskussionen um race und gender helfen der alleinerziehenden Mutter an der Aldi-Kasse nicht. E‑Autos beginnend bei 40k helfen dem Maurer mit täglich 100 Kilometer Arbeitsweg nichts, der muß seinen Gebrauchtdiesel fahren, bis der auseinander fällt. Und so gibt es noch viele weitere Beispiele. Warum sollten die Alleinerziehende und der Maurer links wählen? Nein, wenn sie überhaupt wählen, dann logischerweise AfD.
Die erste größere Hälfte widmet sich einer Bestandsaufnahme: Was ist in den letzten Jahrzehnten passiert, warum hat sich die linke Bewegung (in Westeuropa wenigstens) so weit von ihren Grundlagen entfernt, welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen Wirtschaftsliberalismus ala FDP und Linksliberalismus? (Ihre Antwort: viele, sehr viele). Sie beschäftig sich ausführlich mit allen drängenden Problemen, inklusive Zuwanderung.
Darauf möchte ich eingehen, weil mir doch scheint, daß ihr Standpunkt einfach niedergebrüllt wird (ich habe wenig Hoffnung, daß sich das ändert).
Sie unterscheidet zwischen Flucht und Migration. Flüchtlinge muß man aufnehmen und unterstützen, bedingungslos. Bei Migration hat sie einen anderen Standpunkt: Sie meint, daß es in unserer Gesellschaft noch immer einen tiefen Gerechtigkeitssinn gibt: Wer Leistungen von der Gesellschaft beansprucht, muß auch geleistet haben für die Gesellschaft. Wer also nur entnimmt, der wird von denen, die gegeben haben, aber auch nicht mehr bekommen als der Migrant, scheel angesehen werden. Stichwort Hartz. Weiter: Die Migranten nehmen oftmals einen langen, beschwerlichen Weg auf sich, zuletzt dann mit einer hohen Zahlung an Schleuser verbunden. Das Geld haben nur diejenigen, die schon in ihrer Heimat relativ gut ausgebildet und von daher relativ vermögend sind. Relativ natürlich nicht zu uns, sondern zu den anderen heimatlichen Bürgern. Migration ist auch ein brain drain, zieht den Ursprungsländern das ab, was sie doch so dringend benötigen: Fachpersonal. Dasselbe gilt natürlich auch für den offenen Arbeitsmarkt EU: Einfach mal in der Klinik die augen und Ohren aufhalten: Wieviel osteuropäische Ärzte findet ihr? Und nein, deren Ausbildung hat in den allermeisten Fällen nicht Deutschland bezahlt.
Und so geht es weiter und weiter, sie läßt kaum ein Gebiet unbeackert.
Der zweite Teil dann ist ihr Gegenentwurf: Wie kann man es besser machen? Da gehe ich mal ganz kurz durch: Stärkung der Nationalstaaten, weil sich gezeigt hat: Supranationale Verbünde wie die EU lösen die Probleme nicht. Kontrollierte Einwanderung, auch um Lohndumping (siehe oben: Tönnies) zu verhindern. Eine Steuerpolitik, die Steuerflucht unterbindet. Eine Fiskalpolitik, die die nationale Wirtschaft unterstützt (wir waren mal bei Solar führend, bis China uns mit Billigpanelen zugeschmissen hat, das hätte man mit Zöllen verhindern können) Rückführung von Zeitverträgen und Outsourcing in reguläre, durch Tarifverträge unterstütze Arbeitsverträge. Usw. usf. Nach hinten wirds sehr VWL-lastig, da habe ich nichts mehr verstanden.
Und noch etwas, was wichtig ist: Sie hat zu wirklich allem eine Meinung, und die muß man nicht in jedem Falle teilen. Aber: Sie belegt ihren Standpunkt, jedesmal. Das Buch ist voller Belege, und die sind Fachliteratur, keine Zeitungsbeiträge, Talkshows oder gar Tweets. Das ist alles solide recherchiert, und wer sie kritisiert, müßte auch ihre Quellen lesen.
Das ist ein Buch, das kein, wirklich kein deutscher Politiker hätte schreiben können. Das ist ein politisches Manifest, geschrieben aus Wissenschaft, schon deswegen: Chapeau!
Was mir dennoch die Jubelbekundungen verbietet: das ganze Buch durchzieht ein Hauch Konservatismus, zusammengefaßt: Früher war alles besser. Da liefert sie auch nur einige wenige Belege, vielleicht gibt es ja noch andere, die das Gegenteil nahelegen. Da sie nur die westlichen Gesellschaften betrachtet, kann ich dazu mit meiner Biographie nichts Selbsterlebtes sagen (und sie mit ihrer eigentlich auch nichts)
Corona und Digitalkonzerne: Da vertritt sie Standpunkte, die sie zwar belegt, die für mich aber deutlich übers Ziel hinausschießen und irgendwo in der Nähe von Verschwörungstheorien parasitär leben.
Weiterhin: Sie doziert über weite Strecken. Das mag dem wissenschaftlichen Anspruch geschuldet sein, ist mir dennoch unangenehm. Das bewirkt auch, daß sich das Buch nicht sonderlich flüssig liest.
Und noch etwas: Die Frau ist klug, sehr klug, klüger wohl als die allermeisten ihrer Politiker-Kollegen, welcher Farbe auch immer.
Leseempfehlung? Ja, ich denke schon — jedenfalls für alle aus welchem Lager auch immer, die noch den Anspruch haben, über den Tellerrand zu lesen und zu denken.
#ausgelesen