Es gibt Bücher, die kennt jeder, die hat kaum jemand gelesen. Der Archipel Gulag gehört zu diesen, Gulag geht flott vom Mund. Deshalb wollte ich das Buch einmal lesen. Es geht nichts über Primärquellen, und ein Tweet mit dem dem Screenshot eines Zeitungsartikels ist keine Primärquelle. Solschenizyn übrigens auch nur bedingt, dazu später.
Nur zur Einsortierung, falls das nicht klar sein sollte: Solschenizyn selber hat acht Jahre im Gulag verbracht, danach vier weitere Jahre in der Verbannung. Wenn jemand berechtigt ist, über stalinistisches Gulag und Verbannung zu schreiben, dann er, der im Gegensatz zu Millionen anderen das System überlebte.
Keine leichte Kost ist zu erwarten und wird es auch nicht werden.
Das Buch ist kein Sachbuch, keine Autobiographie — es ist von beidem etwas. Er beschreibt seine Erlebnisse, aber er hat wohl nach Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch viele Briefe von Leidensgenossen bekommen mit deren eigenen Schilderungen — doch schon da geht es los: wie viele Briefe? Dutzende? Hunderte? Tausende? Das Gulag hat Abermillionen das Leben gekostet. Sind die Briefe weniger wert, weil der übergroße Teil der Geschundenen keine Briefe geschrieben hat? Darüber mag man nicht urteilen…
Es gibt ein paar Erkenntnisse für mich, die anderen nicht neu sein mögen, ich aber doch benennen möchte:
- Die staatliche Ermordung von Millionen hat unter Lenin begonnen: Roter Terror — man mag zur Kenntnis nehmen:
50.000 Ermordete! Stalin war ein guter Lenin-Schüler…
- Der Terror von 1937 war nicht furchtbarer als der davor oder danach. Was ihn so besonders macht: Der Terror gegen Intellektuelle, wo vorher Millionen oder doch nur Hunderttausende Bauern erschlagen, verschleppt, verhungert wurden
Meyerhold:Babel:
Und wieviele noch… Und selbst die obersten Folterknechte waren nicht vor Ermordung geschützt, Jagoda, Jeschow, Beria…
- Der Gulag ist nicht mit Stalins Tod gegangen, und das war anfangs selbst Solschenizyn nicht klar, bis ihn Briefe aus den Lagern unter Chrustschow erreichten: “Und was ist mit uns?”
Der Autor vergleicht immer wieder das Lager- und Verbannungswesen mit dem im Zarismus und kommt zu dem schlecht widerlegbaren Ergebnis: Unter den Zaren war alles bedeutend besser. Lenin durfte in der Bibliothek alle Literatur lesen, um selbst dann politische Kampfschriften zu schreiben, unter Stalin wurden die Häftlinge einfach durch Arbeit ermordet.
Es ist für den Leser wirklich schwer: Irgendwann meint der Autor dann, daß man das Lager und die anschließende Verbannung lieben müsse, weil sie einen zum Menschen macht. Das halte ich ja nun für mindestens fragwürdig — aber wer bin ich denn in meinem warmen Einfamilienhaus, daß ich einem Menschen, der all dies durchgemacht hat, besserwisserisch ans Leder dürfte?
Und doch… Das Buch ist zu großen Teilen in einem sarkastischen, eher zynischen Ton geschrieben, das irritiert.
Schlußendlich noch: Dass Ebook ist so lala. X‑Ray, das ist gut. Die Silbentrennung teilweise abenteuerlich, Schusterjungen und Hurensöhne bleiben nicht aus.
Leseempfehlung? Schwierig. Wer den Kampfbegriff Gulag nicht nur verwenden, sondern auch verstehen möchte: Unbedingt. Wer eine literarische Aufarbeitung des Gulag sucht, der sollte vielleicht woanders lesen, Achmatowa etwa?
#ausgelesen
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