Kategorie: Lesen

Vorfreude, schöne Freude

Ich freue mich auf anre­gen­de, ver­gnüg­li­che Lektüre.

 

Über das Buch

 

Wie ent­wi­ckeln Ver­schwö­rungs­theo­rien ihre erzäh­le­ri­sche Über­zeu­gungs­kraft? Wie hän­gen Fakt, Fik­ti­on und Fake News mit­ein­an­der zusam­men? Woher rührt die fas­zi­nie­ren­de Kraft des Häss­li­chen? Und was hat der Kli­ma­wan­del mit anti­ken Vor­stel­lun­gen des Katak­lys­mus zu tun?

Umber­to Ecos Arbei­ten zu Lite­ra­tur und Kunst, zu Geschich­te, Phi­lo­so­phie und Medi­en för­der­ten nicht nur immer wie­der über­ra­schen­de Ein­sich­ten und Quer­ver­bin­dun­gen zu Tage. Sie sind auch bis heu­te von fast ver­blüf­fen­der Aktua­li­tät und Rele­vanz. Auf den Schul­tern von Rie­sen nimmt sei­ne Leser mit auf eine ful­mi­nan­te Rei­se durch die Gedan­ken­welt des »Rock­stars unter den Intel­lek­tu­el­len«, wie der Spie­gel ihn einst nann­te. Der vor­lie­gen­de Band ver­sam­melt zwölf Vor­trä­ge, die Eco bis kurz vor sei­nem Tod in Mai­land gehal­ten hat und in denen noch ein­mal alle The­men auf­schei­nen, die zeit­le­bens im Zen­trum sei­nes wis­sen­schaft­li­chen, lite­ra­ri­schen und essay­is­ti­schen Schaf­fens standen.

Umber­to Eco, Auf den Schul­tern von Rie­sen, Carl Han­ser Ver­lag 2019

László Krasznahorkai, Herscht 07769

Was für ein Roman!

Am Anfang ste­hen Brie­fe an Ange­la Mer­kel wegen des Urknalls, dann kom­men Neo­na­zis in einer thü­rin­gi­schen Klein­stadt, Bach spielt eine Rol­le, Wöl­fe, der NABU, und am Ende sind vie­le Men­schen tot, ver­brannt, erschla­gen, erschos­sen, Selbst­mord, Ver­kehrs­un­fall, Schlag­an­fall, Demenz.

Das Buch spielt in Kana, das zwei­fels­frei Kahla ist.
Der Held ist Flo­ri­an, ein jun­ger Mann, stark und tumb, dabei sanft und ehr­lich, der wohl Voll­wai­se ist, jeden­falls wur­de er von einem Kanaer Nazi, immer nur der Boss genannt, aus einem Heim geholt. Der Boss beschäf­tigt Flo­ri­an als nütz­li­che und bil­li­ge Arbeits­kraft und ver­sucht auch, aus Flo­ri­an einen anstän­di­gen Nazi, in sei­ner Spra­che, anstän­di­gen Deut­schen, zu machen, was ihm aber auf­grund von Flo­ri­ans gren­zen­lo­ser Nai­vi­tät nicht gelingt, er gibt es auch bald auf. Neben dem Nazis­mus hat der Boss eine wei­te­re Lei­den­schaft: Bach. Ja, JSB. Dafür stellt er in Kana sogar ein Sin­fo­nie­or­ches­ter zusam­men. Es ist Kana, also eine Klein­stadt, in der man natür­lich nicht genü­gend Musi­ker für Bach-Wer­ke zusam­men­be­kommt. Das Orches­ter gibt es zwar, aber die Musi­ker spie­len viel lie­ber rum­mel­platz­taug­li­che Musik, Beat­les, Abba, so etwas — zumal Bach eben auch tech­nisch zu schwie­rig ist. Und doch besteht der Boss auf Bach, und so müs­sen sie auf sei­nen Befehl hin wöchent­lich in der Turn­hal­le üben, üben, üben — manch­mal von Flo­ri­an beauf­sich­tigt, der übri­gens im Ver­lauf des Romans einen tie­fen Zugang zu Bach findet.
Bei die­sem Bild: Der Nazi, der eine Pro­vinz­ka­pel­le zu Bach zwingt, kommt ein Grund­merk­mal des Romans zum Vor­schein: Absur­di­tät. Nicht Komik, ganz und gar nicht. Solch sur­rea­le Absur­di­tä­ten durch­zie­hen das gan­ze Buch.
Der Boss hat eine Fir­ma, die auf die Ent­fer­nung von Graf­fi­ti spe­zia­li­siert ist. In ganz Thü­rin­gen wer­den Bach-Stät­ten immer wie­der mit Graf­fi­ti beschmiert, der Boss besei­tigt die­se umge­hend, nicht allein, er ist auch der unum­strit­te­ne Chef einer Neo­na­zi­trup­pe von viel­leicht 5, 6 Neo­na­zis, die wer­den dazu ver­don­nert, sich auf die Lau­er zu legen, um den Schmier­fink auf fri­scher Tat zu ertap­pen, was aber nicht gelingt.

Die ers­ten zwei Drit­tel des Buches plät­schern so dahin, wir wer­den ins gan­ze Pan­op­ti­kum einer Klein­stadt ein­ge­führt: Die Post­stel­le, die Biblio­the­ka­rin, der pen­sio­nier­te Phy­sik­leh­rer, der eine Wet­ter­sta­ti­on im Inter­net betreibt und vie­le ande­re Per­so­nen, alle leicht, aber wirk­lich nur sehr leicht, skurril.
Da pas­siert recht wenig, das ist nichts für Leser, die auf schnel­le Hand­lung war­ten, ich habe mich teil­wei­se wirk­lich gequält.

Dafür wird es im let­zen Drit­tel umso rasan­ter und wirk­lich aber­wit­zig, das ist teil­wei­se schon fast Splat­ter, doch dazu möch­te ich nichts ver­ra­ten. Wie gesagt, am Ende sind dann vie­le tot.

Eins muß unbe­dingt erwähnt wer­den: Die Form des Romans. Man fängt also an zu lesen, liest die ers­te, die zwei­te Sei­te und wun­dert sich: Kein Satz­en­de. Man blät­tert schnell wei­ter und stellt fest: Das gesam­te Buch, 400 Sei­ten, besteht aus einem ein­zi­gen Satz. Natür­lich gibt es jede Men­ge Satz­zei­chen, aber eben nur einen ein­zi­gen Punkt. Für mich hat es das Lesen nicht ein­fa­cher gemacht, vor allem nicht, wenn man wie­der rein­kom­men muß. Es gibt zwar fünf Kapi­tel, aber dann doch nicht wirk­lich. Die sind ein­fach durch schein­bar erra­ti­sche Über­schrif­ten abge­trennt, es gibt kei­ne inhalt­li­che Tren­nung. Dann gibt es noch Merk­wür­dig­kei­ten, deren Sinn (wenn es denn einen gibt) sich mir nicht erschließt: So wer­den Schimpf­wör­ter kon­se­quent ohne Voka­le benutzt, also etwa vrflcht. An bestimm­ten Stel­len wer­den Wör­tern grund­sätz­lich ein Leer­zei­chen unter­ge­scho­ben, also etwa: unterg escho­ben. War­um? Ich weiß es nicht, viel­leicht als Art Stolpersteine.

Und noch etwas: Das Buch spielt in Ost­thü­rin­gen, mit dem Zen­trum Kahla. Der Autor ist Ungar, der lauf Wiki­pe­dia in Buda­pest und Ber­lin lebt, aber jeden­falls nicht in Kahla. Und doch gibt es sehr viel Orte in dem Buch, die es auch real gibt. Da ist die Rede von einem Plat­ten­la­den MR MUSIC in Jena in der Kanai­schen Stra­ße. Es ist die Rede vom Café Wag­ner. In Kana trinkt man Kaf­fe aus der Kaf­fee­rös­te­rei Markt 11 Und das sind nur Jena­er Orte, die mir auf­ge­fal­len sind. Die Kah­ler Nazis woh­nen im Roman in der Burg­str. 19, auch Burg 19 genannt. Es gibt noch mehr in der Art. Der Autor hat offen­sicht­lich sehr genau recher­chiert. Das ist wirk­lich beeindruckend.

Das Lesen ist mir oft schwer­ge­fal­len, das mag mei­ne Schuld sein, weil man das Buch viel­leicht anders als ande­re Bücher lesen muß: Bedingt durch die unend­li­che Abfol­ge an Teil­sät­zen fließt das Buch, mir fällt kein bes­se­rer Ver­gleich ein. Man kann eigent­lich nicht auf­hö­ren zu lesen, weil man kei­nen Ruhe­platz fin­det, an dem man wie­der ein­stei­gen kann. Aber: das ist auch gar nicht nötig. Es gibt kei­ne strin­gen­te Hand­lung, die Geschich­te ist weit­ge­hend beschrei­bend, mit Hand­lung. Das macht es aber auch ein­fach, wie­der ein­zu­stei­gen, weil es eigent­lich ziem­lich egal ist, an wel­cher Stel­le man in den Fluß steigt. Es ist immer noch die Saale.

Ist es nun der deut­sche (sicher­lich nicht) Roman über ost­deut­sche Neonazis?
Nein. Dafür ist das Buch viel zu phan­tas­tisch. Es ist kei­ne Doku­men­ta­ti­on, nicht mal über die Kah­ler Neo­na­zi-Sze­ne. Auf der ande­ren Sei­te: Es gab/gibt die­se Sze­ne. Der NSU kommt aus Jena. Das Brau­ne Haus hat­te zen­tra­le Bedeu­tung für Thü­rin­ger Neo­na­zis (es gibt es nicht mehr, der Arti­kel­ab­schnitt bei Wiki­pe­dia ist veraltet)

Lese­emp­feh­lung? Für mich ein­deu­tig ja, ich wer­de mir das Buch viel­leicht in ein paar Mona­ten erneut vor­neh­men. Für alle ande­ren: Ja, für die Neu­gie­ri­gen, die bereit sind, sich auf unbe­kann­tes Ter­rain zu begeben

 

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Stefan Heym, 5 Tage im Juni

Heym schreibt über den 17. Juni 1953 in Ber­lin, er hat es erlebt. Er schreibt also als unbe­tei­lig­ter Augenzeuge.
Die Erzäh­lung beginnt am 13. und endet am 17. Juni, sie spielt im VEB Mer­kur, einem fik­ti­ven Betrieb in Ber­lin. Held ist der Gewerk­schafts­chef Mar­tin Wit­te, (natür­lich) ein SED-Genosse.
Die Arbeits­nor­men sind gera­de staat­li­cher­seits rabi­at erhöht wor­den, Wit­te ist Gewerk­schaf­ter genug, für die Arbei­ter ein­zu­tre­ten und die Erhö­hung abzu­leh­nen — bis hin zum Minis­ter geht er. Das bringt ihn natür­lich in Kon­flikt mit sei­ner Par­tei, auch die Sta­si ist involviert.
Tat­säch­lich (es ist nicht Wit­tes Ver­dienst) wird die Norm­er­hö­hung zurück­ge­nom­men, doch es ist zu spät. Die Bewe­gung ist eine dif­fus poli­ti­sche gewor­den, immer wie­der geht es um den Gegen­satz “wir hier unten” und “die da oben” Es ist 1953, also 20 Jah­re nach 1933, vie­le Arbei­ter erin­nern sich noch an die Arbeits­kämp­fe bis zurück zum Kai­ser. Doch jetzt ist es ja eine Arbei­ter­re­pu­blik, angeb­lich — wie kann man als Arbei­ter gegen deren Füh­rung strei­ken? Denn es geht nicht um Auf­stand, son­dern um Streik, bis hin zum Gene­ral­streik. Eine Füh­rung gibt es übri­gens nicht, hat es wohl auch in der Rea­li­tät nicht gegeben.
Der Roman hat eini­ge Sei­ten­li­ni­en: Eine Lie­bes­ge­schich­te, die Rol­le des RIAS, die sowje­ti­sche Ver­wal­tung, die wei­ter sieht als die SED-Kader, die Rol­le der West-SPD. Min­des­tens zwei Erschos­se­ne gibt es auch.

Was mir das Lesen schwer gemacht hat: Die Spra­che. Die Spra­che aller betei­lig­ten ist sta­li­nis­tisch: Auf wel­cher Sei­te stehst Du, wir oder sie, sowas eben. Das mag damals so gewe­sen, heu­te liest sich das wie aus dem Mit­tel­al­ter. Teil­wei­se meint man, ein Brecht­sches Lehr­stück zu lesen:

Dabei bedach­te sie

in bezug auf Gadebusch:

daß du mir bei der Hit­ze nicht ver­gißt abends zu spren­gen hat er gesagt ich will nicht daß mir der Rasen ver­brennt bloß weil ich mit muß auf den ver­damm­ten Ausflug

Ich fin­de das Buch schlecht geschrie­ben, und inhalt­lich fin­de ich die Form dem Gegen­stand nicht angemessen.
Gro­ße Wor­te eines klei­nen Blog­gers gegen­über Heym, das ist mir bewußt. Aber wer einen Zugang zu Heym sucht, dem wür­de ich ande­res emp­feh­len, den König David Bericht etwa.

Inter­es­sant aber ist der Roman auf jeden Fall wegen sei­ner Ver­öf­fent­li­chungs­ge­schich­te (er durf­te in der DDR erst 1989 erscheinen)

Lese­emp­feh­lung? Nein, es sei denn, man ist sehr spe­zi­ell interessiert

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Jurek Becker, Jakob der Lügner

Was für ein Buch!

Die­ses gehört zum Beein­dru­ckends­ten, was ich in letz­ter Zeit gele­sen habe.

Die Geschich­te spielt in einem namen­lo­sen jüdi­schen Ghet­to irgend­wo in Ost­eu­ro­pa. Es gibt einen eben­so namen­lo­sen Erzäh­ler, der die Geschich­te von Jakob Heym erzählt, einem schein­bar etwas älte­rem Juden, frü­her hat ihm eine Wirt­schaft gehört: win­ters Kar­tof­fel­puf­fer, som­mers Eis.
Das Ghet­to ist sozu­sa­gen schon immer da gewe­sen, nur manch­mal erin­nern sich die Men­schen, wie es vor dem Ghet­to und vor dem Krieg war. Die jüdi­schen Män­ner arbei­ten am Bahn­hof, ver­la­den Güter. Manch­mal kommt ein Zug mit Vieh­wa­gen vor­bei, in ihnen Men­schen. Jeder weiß, wel­chem Schick­sal die­se Men­schen entgegenfahren.
Eines Tages schnappt Jakob in einer deut­schen Ver­wal­tungs­stel­le einen Fet­zen aus einem Radio auf: Kämp­fe bei (den Namen des Ortes habe ich ver­ges­sen). Der Ort ist nicht ganz dicht, aber doch so dicht, daß man ihn kennt, die Kämp­fe zwi­schen den Deut­schen und der Sowjet­ar­mee wer­den Jakob also bewußt.
Und so beginnt die Geschich­te: Jakob erzählt sei­nem bes­ten Freund von den Kämp­fen, aber nicht etwa, daß er das im Radio auf einer deut­schen Wachstu­be auf­ge­schnappt hat, da ist noch nie ein Jude lebend wie­der raus­ge­kom­men, des­we­gen wür­de nie­mand ihm das glau­ben. Aber er möch­te, daß die Kämp­fe bekannt wer­den, damit die Men­schen Mut fas­sen. Und so lügt er, er hät­te sel­ber ein Radio und es eben mit die­sem Radio gehört. Selbst­ver­ständ­lich wür­de es den sofor­ti­gen Tod bedeu­ten, wenn die Deut­schen ein Radio fän­den oder auch nur den Ver­dacht bekä­men, Jakob wür­de ein Radio besitzen.
Die Nach­richt von den Kämp­fen spricht sich schnell im Ghet­to her­um, die Leu­te begin­nen Mut zu schöp­fen — und ver­lan­gen nach mehr guten Nach­rich­ten, denn Jakob säße mit sei­nem Radio ja an der Nachrichtenquelle.
Aber Jakob hat eben kein Radio und so erfin­det er immer wie­der neue hoff­nun­ger­we­cken­de Nach­rich­ten. Der­weil geht das Leben im Ghet­to wei­ter. Men­schen wer­den erschos­sen, brin­gen sich um, ein auf­ge­weck­tes klei­nes Mäd­chen, des­sen Eltern abge­holt wur­den, wird versteckt.
Jakob fällt es immer schwe­rer, neue Nach­rich­ten zu erfin­den, und em Ende gibt es zwei Enden, aus denen wir Leser wäh­len können.
Bei­de sind nicht schön.

Eine sehr trau­ri­ge, poe­ti­sche und manch­mal auch lus­ti­ge Geschich­te, zau­ber­haft geschrie­ben. Unwei­ger­lich kom­men beim Lesen Gemäl­de von Chagall in den Kopf, die sind eben­so bunt, phan­tas­tisch, absurd.

Der Wiki­pe­dia-Arti­kel zum Buch hat noch eini­ge Hintergrundinformationen

Lese­be­fehl!

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Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt

Har­ter, sehr har­ter Stoff.

Als Zonen­kind ist Sta­li­nis­mus mir nur in der völ­lig ver­harm­lo­sen­den Form “Per­so­nen­kult, wur­de nach Sta­lins Tod gefixt” bei­gebracht wor­den, der Hit­ler­fa­schis­mus aber in aller Breite.
Ich will das wenigs­tens ansatz­wei­se ver­ste­hen: war­um kann man Mil­lio­nen Men­schen umbrin­gen ohne grö­ße­ren Wider­stand? Für den deut­schen Faschis­mus hat Götz Aly eine ent­mu­ti­gen­de Ant­wort gelie­fert: der deut­sche Faschis­mus war eine Gefäl­lig­keits­dik­ta­tur, zu Gefal­len der deut­schen Bevöl­ke­rung und zum Ster­ben der Juden und der Men­schen in den erober­ten Gebieten.
Doch wie war das unter Sta­lin, des­sen Body­count ähn­lich groß wie der Hit­lers war, wenn nicht grö­ßer? Hat hier auch eine Bevöl­ke­rung pro­fi­tiert, wenigs­tens ein Teil? War­um hat der Sta­li­nis­mus sich viel län­ger als der Hit­le­ris­mus hal­ten können?
Bab­e­row­ski lie­fert hier eine ähn­lich ernüch­tern­de Ant­wort wie Aly für den Hil­ter­fa­schis­mus: Bru­tals­ter Ter­ror gegen alle und jeden. Sta­lin hat über Jahr­zehn­te die sowje­ti­sche Bevöl­ke­rung ter­ro­ri­siert. Ob Geno­zid durch Hun­ger (Holo­do­mor — wich­tig auch für das Ver­ständ­nis des aktu­el­len Ukrai­ne-Kon­flikts), ob der “Kampf gegen das Kula­ken­tun”, ob der Gro­ße Ter­ror von 1937/38, das Ver­hei­zen von Hun­dert­tau­sen­den oder Mil­lio­nen Front­sol­da­ten im Gro­ßen Vater­län­di­schen Krieg, ob der Ter­ror gegen Juden auch nach 1945, ob die Anne­xi­on der bal­ti­schen Staa­ten samt Rus­si­fi­zie­rung — es läßt sich weiterführen.

Anders als der Hit­ler­fa­schis­mus beruh­te der Sta­lins­mus auf blan­kem Terror.
Aber war­um? Eine Ant­wort dürf­te sein: Sta­lins Ver­fol­gungs­wahn. Über­all hat er Ver­rä­ter und Fein­de gese­hen, und die Geheim­diens­te muß­ten stän­dig neue Ver­rä­ter und Fein­de nicht nur fin­den, son­dern auch liqui­die­ren. Und deren Fami­li­en waren natür­lich auch zu liqui­die­ren, deren eth­ni­sches und sozia­les Umfeld ebenso,
Und auch die Täter konn­ten nicht sicher sein: Alle NKWD-Chefs wur­den erschos­sen, der letz­te dann unter Chrust­schow nach Sta­lins Tod. Fak­tisch die kom­plet­te Füh­rungs­rie­ge der Bol­sche­wi­ki wur­de ermor­det, die Gene­ra­li­tät kurz vor dem Über­fall Deutsch­land­as auf die Sowjet­uni­on ebenso.
Gan­ze Völ­ker wur­den inner­halb von Stun­den(!!) tau­sen­de Kilo­me­ter umge­sie­delt (Tata­ren, Deut­sche, Tsche­tsche­nen…) — wie­vie­le schon auf dem Trans­port ver­hun­ger­ten, ver­durs­te­ten, erfro­ren, zu Tode gedrückt oder ein­fach nur erschla­gen wur­den — wer weiß es schon?

Der Sta­li­nis­mus hat, jeden­falls scheint es mir so nach Lek­tü­re des Buches, aus­schließ­lich über Ter­ror funk­tio­niert. Ter­ror in all sei­nen blu­ti­gen For­men, Ter­ror gegen wort­wört­lich alle.

Bab­e­row­ski ist Wis­sen­schaft­ler. Der Fuß­no­ten­an­hang ist schon von der schie­ren Göße her beein­dru­ckend, dar­un­ter sind vie­le Archivmaterialien.
Und doch: Auch er schreibt die Geschich­te nicht nur auf, son­dern fragt auch: War­um ist es so gekom­men? Mir per­sön­lich — ich weiß bedeu­tend weni­ger als der Autor — wird die Ant­wort zu sehr in der Per­son Sta­lin gesucht. Ich fra­ge mich, wel­che Rol­le Tra­di­tio­nen hat­ten, die im Zaren­reich lagen und über Lenin bei Sta­lin ankamen.

X‑Ray fehlt defi­ni­tiv, das ist ein gro­ßes Man­ko für des E‑Book.

Lese­emp­feh­lung? Für alle, die sich im spe­zi­el­len für Sta­li­nis­mus und im wei­te­ren dafür inter­es­sie­ren, war­um Ruß­land heu­te so ist wie es ist, war­um die Bal­ten und die Ukrai­ner Angst vor groß­rus­si­schen Fan­ta­sien haben: für die: unbedingt!
Aber das wäre eben ein sehr spe­zi­el­les Lese­pu­bli­kum, ich weiß.

 

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Stalinismus-Buch gesucht

Ich suche eine nüch­ter­ne, wis­sen­schaft­li­che und dabei les­bar geschrie­be­ne Unter­su­chung zum Stalinismus.
Etwa so wie Götz Aly es in Hit­lers Volks­staat gemacht hat. Solch mons­trö­se Dik­ta­tu­ren kön­nen kaum funk­tio­niert haben, die sowje­ti­sche noch viel län­ger als die deut­sche, wenn nicht wei­te Tei­le der Bevöl­ke­rung Vor­tei­le hat­ten — zuun­guns­ten der Geschun­de­nen natürlich.
Sta­lin-Bio­gra­phien gibt es eini­ge, die von Isaac Deut­scher steht vor Jahr­zehn­ten gele­sen hin­ter mir im Regal. Es gibt eine Auto­bio­gra­phie von Trotz­ki, es gibt Bücher zur zwei­ten Rei­he hin­ter Sta­lin, die bei wei­tem kei­ne Mit­läu­fer, son­dern Mit­tä­ter waren. Es gibt die Bücher von Sol­sche­ni­zyn. Aber all das suche ich eben nicht.
Ich suche eine Erklä­rung, war­um Sta­li­nis­mus von den 20-ern bis in die 60-er Jah­re funk­tio­nie­ren konn­te, mit all den Mil­lio­nen Opfern.

Vor­schlä­ge?

Knut Hamsun, Hunger

Ham­suns Debüt-Roman von 1890.
Eine Hand­lung gibt es nicht.

Der Roman spielt in Kris­tia­na, dem dama­li­gen Namen von Oslo. Der Ich-Erzäh­ler beschreibt den Ver­fall des “Hel­den”, eines obdach­lo­sen Jour­na­lis­ten und Schrift­stel­lers, der, wie der Titel schon sagt, hungert.
Das Buch spielt inner­halb weni­ger Wochen schein­bar in einem Herbst, jeden­falls ist das Wet­ter immer naß, kalt und grau.
Der Held hat kein Geld, so rich­tig gar keins, und auch kei­nen Besitz, bis auf das, was er am Leib trägt, und auch das ist zu wenig, abge­ris­sen, dreckig.
Ab und an kommt er zu ein paar Kro­nen, die aber nie län­ger vor­hal­ten, auch weil er sofort Gutes tut damit, näm­lich wenigs­tens einen Teil ande­ren, die er ähn­lich ver­zwei­felt sieht wie sich selbst, zukom­men läßt.

Aus­führ­lichst wird der inne­re Zustand beschrie­ben. Ver­zweif­lung, Hoff­nung, Selbst­be­trug, Ekel vor sich selbst und Hun­ger, Hun­ger, Hun­ger. Das ist groß­ar­ti­ge Lite­ra­tur, ganz plas­tisch und prä­zi­se geschrieben.
Und merk­wür­dig. Denn es ist ja der Ich-Erzäh­ler, der hier ganz plas­tisch und prä­zi­se sich selbst beschreibt, in einem Dau­er­zu­stand von Erre­gung und Apa­thie, Hun­ger und Deli­ri­um. Als säße der Erzäh­ler sou­ve­rän auf einer Wol­ke und betrach­te­te sein eige­nes küm­mer­li­ches Dasein drunten.

Es gibt übri­gens sogar eine Roman­ze, die — natür­lich — kein hap­py end hat.

Gleich­zei­tig auch sieht der Held die ande­ren Lei­dens­ge­fähr­ten, die in der Gos­se ihr Über­le­ben orga­ni­sie­ren. Da ver­sucht er zu hel­fen (indem er, wenn er mal ein klein wenig Geld bekom­men hat, einen Teil sofort wei­ter­gibt). Ein­mal gibt es eine Sze­ne: Einem Kind auf der Stra­ße (Gos­se) spuckt ein Mann auf den Kopf. Das Kind weint vor Demü­ti­gung. Tage spä­ter ergau­nert sich der Held Kuchen, den er sofort in sich rein­stopft, er hat­te wie­der ein­mal gehun­gert. Doch den letz­ten Teil des Kuchens hebt er sich auf für das Kind und bringt den Kuchen vor­bei. Er hat den Schmerz des Kin­des gespürt und will hel­fen, doch so trost­los wie der Roman ist: Das ist kei­ne Hil­fe. Aber viel­leicht doch ein klei­nes war­mes Licht.

Am meis­ten bedrü­ckend fand ich die Beschrei­bun­gen des Hun­gers: Daß er, wenn er nach lan­gem Hun­gern wie­der was ißt, das Geges­se­ne sofort wie­der erbricht. Wie­der ißt, wie­der bricht. Und dar­über weint, weil er das Essen nicht behal­ten kann. Das ist fürch­ter­lich luzid beschrieben.

Die Geschich­te löst sich etwas unver­mu­tet auf: Der Held heu­ert auf einem Schiff nach Leeds an und das Buch endet abrupt

Lese­emp­feh­lung? Schwie­rig. Wer ger­ne Kaf­ka gele­sen hat, soll­te Hun­ger lesen. Dos­to­jew­ski-Fans wohl auch. Freun­de von Arzt­ro­ma­nen eher nicht 🙂

 

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Sahra Wagenknecht, Die Selbstgerechten

Vor­be­mer­kung, da die Autorin pola­ri­siert: Wenn Du das Buch nicht wenigs­tens in län­ge­ren Aus­zü­gen gele­sen hast, dann hal­te Dich bit­te mit posi­ti­ver wie nega­ti­ver Kri­tik zurück, auch dum­me Kampf­be­grif­fe wie Sahr­ra­zin und Flü­gel­knecht zeu­gen mehr von der Bor­niert­heit des Schrei­bers als von sonst irgendetwas.
Danke.

Wagen­knecht stellt fest, daß die lin­ke Bewe­gung nicht mehr die­je­ni­gen  reprä­sen­tiert, die frü­her ihre Kli­en­tel waren: Arbei­ter, klei­ne und mitt­le­re Ange­stell­te, Klein­selb­stän­di­ge, Nicht-Aka­de­mi­ker. Sie belegt und das ist ja kein Geheim­nis): Genau die­se Kli­en­tel, die frü­her eher links gewählt hat, wählt heu­te rechts — die AfD ist eine Arbeiterpartei.
Sie fragt, war­um? Die Anfän­ge lie­gen ihr nach in den Auf­stie­gen der bru­t­al­ka­pi­ta­lis­ti­schen Model­le, für die zuerst Rea­gan und That­cher, spä­ter auch Blair und Schrö­der stan­den: Pri­va­ti­sie­rung gemein­schaft­li­cher Auf­ga­ben, Öff­nung der Finanz­märk­te, Kampf gegen die Gewerk­schaf­ten, För­de­rung des Nied­rig­lohn­sek­tors, Globalisierung.
Glo­ba­li­sie­rung bedeu­tet: Unter­neh­men gehen dort­hin, wo die Lohn­kos­ten gerin­ger sind — oder holen sich Bil­lig­ar­bei­ter ins eige­ne Land. Tön­nies wäre nicht in kur­zer Zeit Mil­li­ar­där gewor­den, wenn rot/grün es nicht ermög­licht hät­te, daß rumä­ni­sche Hilfs­ar­bei­ter ohne jede Rech­te, näm­lich mit Werk­ver­trä­gen, ihm zu Löh­nen weit unter­halb des gesetz­li­chen Min­dest­loh­nes die Schwei­ne schlach­ten und zerschnippeln.
Laut Wagen­knecht haben die “ein­fa­chen Leu­te”, also obi­ge Arbei­ter etc., seit den 80-ern mas­siv an sozia­ler Sicher­heit und Auf­stiegs­chan­cen ver­lo­ren. Im Gegen­zug gibt es natür­lich auch Gewin­ner: eine rei­che Ober­schicht sowie­so, aber auch die geho­be­ne, urba­ne aka­de­mi­sche Mit­tel­schicht. Die Schicht, in der es zur Nor­ma­li­tät gehört, wenigs­tens ein Aus­lands­se­mes­ter absol­viert zu haben, um Got­tes Wil­len auf gar kei­nen Fall in der Plat­te zu woh­nen, ger­ne eine pol­ni­sche Putz­hil­fe zu beschäf­ti­gen und die Aldi-Schnit­zel natür­lich nicht ißt.
Apro­pos: Inter­es­sant fand ich, daß der Anteil am Ver­kaufs­preis, den der Bau­er bekommt, in den let­zen Jahr­zehn­ten um ‑zig Pro­zent gesun­ken ist. Fragt sich, ob das Schnit­zel wirk­lich zu bil­lig ist — oder ob nicht viel­mehr die Pro­fi­te der Zwi­schen­händ­ler und Wei­ter­ver­ar­bei­ter unver­schämt gestie­gen sind?
Die­se aka­de­mi­sche Mit­tel­schicht ist es, die heu­te das defi­niert, was als “links” wahr­ge­nom­men wird in der Öffent­lich­keit. Wagen­knecht nennt die­se Lin­ke eine “Life­style-Lin­ke” Ich fin­de den Begriff irgend­wie unele­gant, aber er paßt. Es geht die­ser Lin­ken nicht mehr um eine Änderung/Verbesserung der sozia­len Ver­hält­nis­se, es geht oft­mals nur dar­um, den eige­nen rich­ti­gen Stand­punkt (“rich­tig” für die ande­ren in der Fil­ter­bla­se) zu doku­men­tie­ren. Die im Schat­ten wer­den schon lan­ge nicht mehr gese­hen. Nur: Dis­kus­sio­nen um race und gen­der hel­fen der allein­er­zie­hen­den Mut­ter an der Aldi-Kas­se nicht. E‑Autos begin­nend bei 40k hel­fen dem Mau­rer mit täg­lich 100 Kilo­me­ter Arbeits­weg nichts, der muß sei­nen Gebraucht­die­sel fah­ren, bis der aus­ein­an­der fällt. Und so gibt es noch vie­le wei­te­re Bei­spie­le. War­um soll­ten die Allein­er­zie­hen­de und der Mau­rer links wäh­len? Nein, wenn sie über­haupt wäh­len, dann logi­scher­wei­se AfD.

Die ers­te grö­ße­re Hälf­te wid­met sich einer Bestands­auf­nah­me: Was ist in den letz­ten Jahr­zehn­ten pas­siert, war­um hat sich die lin­ke Bewe­gung (in West­eu­ro­pa wenigs­tens) so weit von ihren Grund­la­gen ent­fernt, wel­che Gemein­sam­kei­ten gibt es zwi­schen Wirt­schafts­li­be­ra­lis­mus ala FDP und Links­li­be­ra­lis­mus? (Ihre Ant­wort: vie­le, sehr vie­le). Sie beschäf­tig sich aus­führ­lich mit allen drän­gen­den Pro­ble­men, inklu­si­ve Zuwanderung.
Dar­auf möch­te ich ein­ge­hen, weil mir doch scheint, daß ihr Stand­punkt ein­fach nie­der­ge­brüllt wird (ich habe wenig Hoff­nung, daß sich das ändert).
Sie unter­schei­det zwi­schen Flucht und Migra­ti­on. Flücht­lin­ge muß man auf­neh­men und unter­stüt­zen, bedin­gungs­los. Bei Migra­ti­on hat sie einen ande­ren Stand­punkt: Sie meint, daß es in unse­rer Gesell­schaft noch immer einen tie­fen Gerech­tig­keits­sinn gibt: Wer Leis­tun­gen von der Gesell­schaft bean­sprucht, muß auch geleis­tet haben für die Gesell­schaft. Wer also nur ent­nimmt, der wird von denen, die gege­ben haben, aber auch nicht mehr bekom­men als der Migrant, scheel ange­se­hen wer­den. Stich­wort Hartz. Wei­ter: Die Migran­ten neh­men oft­mals einen lan­gen, beschwer­li­chen Weg auf sich, zuletzt dann mit einer hohen Zah­lung an Schleu­ser ver­bun­den. Das Geld haben nur die­je­ni­gen, die schon in ihrer Hei­mat rela­tiv gut aus­ge­bil­det und von daher rela­tiv ver­mö­gend sind. Rela­tiv natür­lich nicht zu uns, son­dern zu den ande­ren hei­mat­li­chen Bür­gern. Migra­ti­on ist auch ein brain drain, zieht den Ursprungs­län­dern das ab, was sie doch so drin­gend benö­ti­gen: Fach­per­so­nal. Das­sel­be gilt natür­lich auch für den offe­nen Arbeits­markt EU: Ein­fach mal in der Kli­nik die augen und Ohren auf­hal­ten: Wie­viel ost­eu­ro­päi­sche Ärz­te fin­det ihr? Und nein, deren Aus­bil­dung hat in den aller­meis­ten Fäl­len nicht Deutsch­land bezahlt.
Und so geht es wei­ter und wei­ter, sie läßt kaum ein Gebiet unbeackert.

Der zwei­te Teil dann ist ihr Gegen­ent­wurf: Wie kann man es bes­ser machen? Da gehe ich mal ganz kurz durch: Stär­kung der Natio­nal­staa­ten, weil sich gezeigt hat: Supra­na­tio­na­le Ver­bün­de wie die EU lösen die Pro­ble­me nicht. Kon­trol­lier­te Ein­wan­de­rung, auch um Lohn­dum­ping (sie­he oben: Tön­nies) zu ver­hin­dern. Eine Steu­er­po­li­tik, die Steu­er­flucht unter­bin­det. Eine Fis­kal­po­li­tik, die die natio­na­le Wirt­schaft unter­stützt (wir waren mal bei Solar füh­rend, bis Chi­na uns mit Bil­lig­pa­nelen zuge­schmis­sen hat, das hät­te man mit Zöl­len ver­hin­dern kön­nen) Rück­füh­rung von Zeit­ver­trä­gen und Out­sour­cing in regu­lä­re, durch Tarif­ver­trä­ge unter­stüt­ze Arbeits­ver­trä­ge. Usw. usf. Nach hin­ten wirds sehr VWL-las­tig, da habe ich nichts mehr verstanden.

Und noch etwas, was wich­tig ist: Sie hat zu wirk­lich allem eine Mei­nung, und die muß man nicht in jedem Fal­le tei­len. Aber: Sie belegt ihren Stand­punkt, jedes­mal. Das Buch ist vol­ler Bele­ge, und die sind Fach­li­te­ra­tur, kei­ne Zei­tungs­bei­trä­ge, Talk­shows oder gar Tweets. Das ist alles soli­de recher­chiert, und wer sie kri­ti­siert, müß­te auch ihre Quel­len lesen.
Das ist ein Buch, das kein, wirk­lich kein deut­scher Poli­ti­ker hät­te schrei­ben kön­nen. Das ist ein poli­ti­sches Mani­fest, geschrie­ben aus Wis­sen­schaft, schon des­we­gen: Chapeau!

Was mir den­noch die Jubel­be­kun­dun­gen ver­bie­tet: das gan­ze Buch durch­zieht ein Hauch Kon­ser­va­tis­mus, zusam­men­ge­faßt: Frü­her war alles bes­ser. Da lie­fert sie auch nur eini­ge weni­ge Bele­ge, viel­leicht gibt es ja noch ande­re, die das Gegen­teil nahe­le­gen. Da sie nur die west­li­chen Gesell­schaf­ten betrach­tet, kann ich dazu mit mei­ner Bio­gra­phie nichts Selbst­er­leb­tes sagen (und sie mit ihrer eigent­lich auch nichts)
Coro­na und Digi­tal­kon­zer­ne: Da ver­tritt sie Stand­punk­te, die sie zwar belegt, die für mich aber deut­lich übers Ziel hin­aus­schie­ßen und irgend­wo in der Nähe von Ver­schwö­rungs­theo­rien para­si­tär leben.
Wei­ter­hin: Sie doziert über wei­te Stre­cken. Das mag dem wis­sen­schaft­li­chen Anspruch geschul­det sein, ist mir den­noch unan­ge­nehm. Das bewirkt auch, daß sich das Buch nicht son­der­lich flüs­sig liest.

Und noch etwas: Die Frau ist klug, sehr klug, klü­ger wohl als die aller­meis­ten ihrer Poli­ti­ker-Kol­le­gen, wel­cher Far­be auch immer.

Lese­emp­feh­lung? Ja, ich den­ke schon — jeden­falls für alle aus wel­chem Lager auch immer, die noch den Anspruch haben, über den Tel­ler­rand zu lesen und zu denken.

 

#aus­ge­le­sen

Solschenizyn, Der Archipel Gulag

Es gibt Bücher, die kennt jeder, die hat kaum jemand gele­sen. Der Archi­pel Gulag gehört zu die­sen, Gulag geht flott vom Mund. Des­halb woll­te ich das Buch ein­mal lesen. Es geht nichts über Pri­mär­quel­len, und ein Tweet mit dem dem Screen­shot eines Zei­tungs­ar­ti­kels ist kei­ne Pri­mär­quel­le. Sol­sche­ni­zyn übri­gens auch nur bedingt, dazu später.
Nur zur Ein­sor­tie­rung, falls das nicht klar sein soll­te: Sol­sche­ni­zyn sel­ber hat acht Jah­re im Gulag ver­bracht, danach vier wei­te­re Jah­re in der Ver­ban­nung. Wenn jemand berech­tigt ist, über sta­li­nis­ti­sches Gulag und Ver­ban­nung zu schrei­ben, dann er, der im Gegen­satz zu Mil­lio­nen ande­ren das Sys­tem überlebte.
Kei­ne leich­te Kost ist zu erwar­ten und wird es auch nicht werden.

Das Buch ist kein Sach­buch, kei­ne Auto­bio­gra­phie — es ist von bei­dem etwas. Er beschreibt sei­ne Erleb­nis­se, aber er hat wohl nach Ein Tag im Leben des Iwan Denis­so­witsch vie­le Brie­fe von Lei­dens­ge­nos­sen bekom­men mit deren eige­nen Schil­de­run­gen — doch schon da geht es los: wie vie­le Brie­fe? Dut­zen­de? Hun­der­te? Tau­sen­de? Das Gulag hat Aber­mil­lio­nen das Leben gekos­tet. Sind die Brie­fe weni­ger wert, weil der über­gro­ße Teil der Geschun­de­nen kei­ne Brie­fe geschrie­ben hat? Dar­über mag man nicht urteilen…

Es gibt ein paar Erkennt­nis­se für mich, die ande­ren nicht neu sein mögen, ich aber doch benen­nen möchte:

Der Autor ver­gleicht immer wie­der das Lager- und Ver­ban­nungs­we­sen mit dem im Zaris­mus und kommt zu dem schlecht wider­leg­ba­ren Ergeb­nis: Unter den Zaren war alles bedeu­tend bes­ser. Lenin durf­te in der Biblio­thek alle Lite­ra­tur lesen, um selbst dann poli­ti­sche Kampf­schrif­ten zu schrei­ben, unter Sta­lin wur­den die Häft­lin­ge ein­fach durch Arbeit ermor­det.
Es ist für den Leser wirk­lich schwer: Irgend­wann meint der Autor dann, daß man das Lager und die anschlie­ßen­de Ver­ban­nung lie­ben müs­se, weil sie einen zum Men­schen macht. Das hal­te ich ja nun für min­des­tens frag­wür­dig — aber wer bin ich denn in mei­nem war­men Ein­fa­mi­li­en­haus, daß ich einem Men­schen, der all dies durch­ge­macht hat, bes­ser­wis­se­risch ans Leder dürfte?

Und doch… Das Buch ist zu gro­ßen Tei­len in einem sar­kas­ti­schen, eher zyni­schen Ton geschrie­ben, das irritiert.

Schlu­ßend­lich noch: Dass Ebook ist so lala. X‑Ray, das ist gut. Die Sil­ben­tren­nung teil­wei­se aben­teu­er­lich, Schus­ter­jun­gen und Huren­söh­ne blei­ben nicht aus.

Lese­emp­feh­lung? Schwie­rig. Wer den Kampf­be­griff Gulag nicht nur ver­wen­den, son­dern auch ver­ste­hen möch­te: Unbe­dingt. Wer eine lite­ra­ri­sche Auf­ar­bei­tung des Gulag sucht, der soll­te viel­leicht woan­ders lesen, Ach­ma­towa etwa?

 

#aus­ge­le­sen

Stefan Heym, doppelt

Ers­te Lek­tü­re: Der Win­ter uns­res Miß­ver­gnü­gens — wo die Ver­bin­dung zu Stein­becks The win­ter of our dis­con­tent liegt, weiß ich nicht. Es muß einen Zusam­men­hang geben, der Zufall wäre allzugroß.
Wo begin­nen? Wer Heym nicht kennt: Hier ent­lang. Das Büch­lein ist kein Roman, es sind Tage­buch­no­ti­zen, bear­bei­tet, um Rück­blen­den erwei­tert, kurz: dann doch Lite­ra­tur. Der ers­te Ein­trag datiert vom 16. Novem­ber 1976, dem Tag, an dem Bier­mann offi­zi­ell aus­ge­bür­gert wur­de. Zur Erinnerung:

Die zustän­di­gen Behör­den der DDR haben Wolf Bier­mann, der 1953 aus Ham­burg in die DDR über­sie­del­te, das Recht auf wei­te­ren Auf­ent­halt in der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik entzogen.
Die­se Ent­schei­dung wur­de auf Grund des »Geset­zes über die Staats­bür­ger­schaft der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik – Staats­bür­ger­schafts­ge­setz – vom 20. Febru­ar 1967«, Para­graph 13, nach dem Bür­gern wegen gro­ber Ver­let­zung der staats­bür­ger­li­chen Pflich­ten die Staats­bür­ger­schaft der DDR aberkannt wer­den kann, gefaßt.
Bier­mann befin­det sich gegen­wär­tig in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Mit sei­nem feind­se­li­gen Auf­tre­ten gegen­über der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik hat er sich selbst den Boden für die wei­te­re Gewäh­rung der Staats­bür­ger­schaft der DDR ent­zo­gen. Sein per­sön­li­ches Eigen­tum wird ihm – soweit es sich in der DDR befin­det – zugestellt.

So war das damals. Heym glaubt, daß das eine völ­lig destruk­ti­ve Ent­schei­dung ist, weil jeder ehr­li­che Schrift­stel­ler sich auf­leh­nen wird, er notiert ätzend: “[…] das Aus­bür­gern wür­de sich ein­bür­gern, wenn jetzt nicht gespro­chen wird.”
Wor­aus dann der Pro­test wird.

(Bild von https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0213_bie&object=context&l=de)
Nina Hagen dabei — wohl wegen ihrer Mut­ter und weil Man­fred Krug ihr Zieh­va­ter war — und der nahm kein Blatt vor den Mund, der war ein Haudrauf.

Zurück zu Heym: Natür­lich ent­steht eine sol­che Reso­lu­ti­on, die direkt Hon­ecker angreift (Herm­lin war Hon­eckers Duz­freund, der wuß­te, daß man Bier­mann nicht ohne des­sen Pla­cet aus­bür­gern kann). Und dar­über geht dann das Tage­buch: Die Aus­bür­ge­rung, der offe­ne Brief, die Fol­gen von beidem.

Inter­es­sant ist die Lebens­welt von Heym: Der hat über­all den Mund auf­ge­macht und gesagt, was er sagen woll­te. Der hat­te kei­ne Angst vor nie­man­dem, muß­te er wohl auch nicht haben, Heym war sakro­sankt wie kein ande­rer (mit Aus­nah­me von Herm­lin viel­leicht) Die Schrift­stel­ler (und ein paar Schau­spie­ler plus Fritz Cremer) waren schnell zu mobi­li­sie­ren: Sie hat­ten alle ein Tele­fon (was durch die gesam­te DDR-Zeit ein Pri­vi­leg war), alle wohn­ten in/bei Ber­lin, und immer war die Woh­nung oder eher das Haus groß genug, um vie­le Men­schen zu ver­sam­meln. Man lese mal, wie Man­fred Krug leb­te — das hat­te mit der Lebens­wirk­lich­keit des ordi­nä­ren Bür­gers nichts mehr zu tun. Heym plant sei­nen Frank­reich-Urlaub. Die DDR ließ sich ihre Vor­zei­ge­künst­ler was kos­ten, frag­los. Gleich­zei­tig wuß­ten alle, daß sie unter stän­di­ger Beob­ach­tung durch die Sta­si stan­den. Tele­fo­ne wur­den abge­hört, stän­dig Bewa­cher im Schlepp­tau, Heym wur­de durch sei­ne Haus­häl­te­rin aus­spio­niert (die Berich­te befin­den sich im Anhang) Heym sel­ber hat das weni­ger ange­foch­ten, er wuß­te, daß er am Tele­fon bes­ser unver­bind­lich bleibt und ansons­ten Nar­ren­frei­heit genießt. Vie­le ande­re waren weni­ger robust und gaben nach Mona­ten auf und gin­gen in den Wes­ten. Denn was soll­te man machen, wenn man nicht ver­öf­fent­li­chen darf, nicht auf­tre­ten darf, kei­ne Fil­me dre­hen darf?

Der letz­te Ein­trag ist vom 24. Dezem­ber 1976, Heym liest zu Hau­se der Fami­lie die Weih­nachts­ge­schich­te vor: Fürch­tet euch nicht!
Das Tage­buch behan­delt also nur etwa fünf Wochen, durch Rück­blen­den dann aber doch einen deut­lich grö­ße­ren Zeitraum.

Und doch: Im Nach­gang kann man sagen: Die Bier­mann-Aus­bür­ge­rung hat das Ende der DDR eingeleitet.

Lese­emp­feh­lung? Ja, es ist nicht viel Text, aber viel Sprung­brett für eige­ne Recher­chen. Man ist nach Lek­tü­re defi­ni­tiv klü­ger als vorher.


Zwei­te Lek­tü­re: Die Archi­tek­ten. Ganz ande­res The­ma, ganz ande­re Zeit (geschrie­ben in den 60-ern). Der Roman geht schon mal rich­tig übel los: Juli­an Goltz, einst vor den Nazis in die Sowjet­uni­on geflo­hen, wird von die­ser an Hit­ler­deutsch­land aus­ge­lie­fert. Er befin­det sich in Brest in einem Vieh­wag­gon, die Über­ga­be steht unmit­tel­bar bevor, er läßt sein Leben Revue pas­sie­ren, erin­nert sich an sei­ne Frau, die im sowje­ti­schen Lager ver­reckt ist, an ihre Toch­ter, die er in guten Hän­den bei einem deut­schen Freund in Mos­kau weiß. Nach Deutsch­land über­stellt zu wer­den ist ihm eigent­lich egal. Er wur­de vom NKWD gefol­tert, nun wird er von der Gesta­po wei­ter­ge­fol­tert werden.
Es gibt einen Aus­weg: Sich erschie­ßen las­sen, und so läuft er los, im Nie­mands­land zwi­schen Deutsch­land und der Sowjetunion.

Von wel­cher Sei­te, dach­te er, wür­de die ers­te Kugel geflo­gen kom­men; dann spür­te er sie, ein ein­zi­ger gro­ßer Schmerz.

Uff. Pau­se, sacken las­sen. Das erin­nert mich an Chris­top Hein, da stirbt der Mann genau­so tro­cken (er wird erschlagen)
Das ist aber nur der Pro­log, die eigent­li­che Hand­lung beginnt spä­ter, in Ost­ber­lin in den 50-ern beim Bau der Sta­lin­al­lee. Die Toch­ter Julia ist mitt­ler­wei­le eine jun­ge Frau, ver­hei­ra­tet mit dem Mann, zu dem ihre Eltern sie in Mos­kau gege­ben haben: Arnold Sund­strom. Der ist mitt­ler­wei­le Chef­ar­chi­tekt der Sta­lin­al­lee, ange­kom­men auf dem Kar­rie­re­gip­fel, den Natio­nal­preis hat er fest in Aus­sicht. Sie haben bei­de ein Kind, ein Haus, ein Auto, eine Haus­häl­te­rin, sie lie­ben sich — alles in Butter.
Ab hier dekon­stru­iert Heym den Sund­strom. Es stellt sich zag­haft anfangs, dann immer deut­li­cher, her­aus, daß Sund­strom Juli­as Eltern damals in Mos­kau denun­ziert hat. Dann hat er es in der DDR und ihrer halb­ga­ren Abrech­nung mit dem Sta­li­nis­mus durch Tak­tie­ren, Krie­chen usw. eben bis zum Chef­ar­chi­tek­ten gebracht.

Der Roman spielt nach dem XX. Par­tei­tag der KPdSU, Julia bekommt irgend­wie Chrust­schows Geheim­re­de. Nehmt euch 30 Minu­ten Zeit und lest das. Das ist Jahr­hun­dert­ge­schich­te. Und nach der Lek­tü­re ist nichts mehr wie es vor­her war in ihrem Leben.

Ich fin­de den Roman nicht son­der­lich gelun­gen. Die Dia­lo­ge könn­ten auf Ver­samm­lun­gen gespro­chen wer­den, aber in der Fami­lie, unter Freun­den und Kol­le­gen? Kaum. Oder war das in den 50-ern viel­leicht doch so?
Es bleibt eine bit­te­re Abrech­nung nicht nur mit dem sowje­ti­schen Sta­li­nis­mus, son­dern auch mit dem unter­schwel­li­gen Sta­li­nis­mus, der in der DDR wei­ter­ge­lebt hat. Dar­in ist der Roman gut.

Lese­emp­feh­lung? Jein

 

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