Am Anfang stehen Briefe an Angela Merkel wegen des Urknalls, dann kommen Neonazis in einer thüringischen Kleinstadt, Bach spielt eine Rolle, Wölfe, der NABU, und am Ende sind viele Menschen tot, verbrannt, erschlagen, erschossen, Selbstmord, Verkehrsunfall, Schlaganfall, Demenz.
Das Buch spielt in Kana, das zweifelsfrei Kahla ist.
Der Held ist Florian, ein junger Mann, stark und tumb, dabei sanft und ehrlich, der wohl Vollwaise ist, jedenfalls wurde er von einem Kanaer Nazi, immer nur der Boss genannt, aus einem Heim geholt. Der Boss beschäftigt Florian als nützliche und billige Arbeitskraft und versucht auch, aus Florian einen anständigen Nazi, in seiner Sprache, anständigen Deutschen, zu machen, was ihm aber aufgrund von Florians grenzenloser Naivität nicht gelingt, er gibt es auch bald auf. Neben dem Nazismus hat der Boss eine weitere Leidenschaft: Bach. Ja, JSB. Dafür stellt er in Kana sogar ein Sinfonieorchester zusammen. Es ist Kana, also eine Kleinstadt, in der man natürlich nicht genügend Musiker für Bach-Werke zusammenbekommt. Das Orchester gibt es zwar, aber die Musiker spielen viel lieber rummelplatztaugliche Musik, Beatles, Abba, so etwas — zumal Bach eben auch technisch zu schwierig ist. Und doch besteht der Boss auf Bach, und so müssen sie auf seinen Befehl hin wöchentlich in der Turnhalle üben, üben, üben — manchmal von Florian beaufsichtigt, der übrigens im Verlauf des Romans einen tiefen Zugang zu Bach findet.
Bei diesem Bild: Der Nazi, der eine Provinzkapelle zu Bach zwingt, kommt ein Grundmerkmal des Romans zum Vorschein: Absurdität. Nicht Komik, ganz und gar nicht. Solch surreale Absurditäten durchziehen das ganze Buch.
Der Boss hat eine Firma, die auf die Entfernung von Graffiti spezialisiert ist. In ganz Thüringen werden Bach-Stätten immer wieder mit Graffiti beschmiert, der Boss beseitigt diese umgehend, nicht allein, er ist auch der unumstrittene Chef einer Neonazitruppe von vielleicht 5, 6 Neonazis, die werden dazu verdonnert, sich auf die Lauer zu legen, um den Schmierfink auf frischer Tat zu ertappen, was aber nicht gelingt.
Die ersten zwei Drittel des Buches plätschern so dahin, wir werden ins ganze Panoptikum einer Kleinstadt eingeführt: Die Poststelle, die Bibliothekarin, der pensionierte Physiklehrer, der eine Wetterstation im Internet betreibt und viele andere Personen, alle leicht, aber wirklich nur sehr leicht, skurril.
Da passiert recht wenig, das ist nichts für Leser, die auf schnelle Handlung warten, ich habe mich teilweise wirklich gequält.
Dafür wird es im letzen Drittel umso rasanter und wirklich aberwitzig, das ist teilweise schon fast Splatter, doch dazu möchte ich nichts verraten. Wie gesagt, am Ende sind dann viele tot.
Eins muß unbedingt erwähnt werden: Die Form des Romans. Man fängt also an zu lesen, liest die erste, die zweite Seite und wundert sich: Kein Satzende. Man blättert schnell weiter und stellt fest: Das gesamte Buch, 400 Seiten, besteht aus einem einzigen Satz. Natürlich gibt es jede Menge Satzzeichen, aber eben nur einen einzigen Punkt. Für mich hat es das Lesen nicht einfacher gemacht, vor allem nicht, wenn man wieder reinkommen muß. Es gibt zwar fünf Kapitel, aber dann doch nicht wirklich. Die sind einfach durch scheinbar erratische Überschriften abgetrennt, es gibt keine inhaltliche Trennung. Dann gibt es noch Merkwürdigkeiten, deren Sinn (wenn es denn einen gibt) sich mir nicht erschließt: So werden Schimpfwörter konsequent ohne Vokale benutzt, also etwa vrflcht. An bestimmten Stellen werden Wörtern grundsätzlich ein Leerzeichen untergeschoben, also etwa: unterg eschoben. Warum? Ich weiß es nicht, vielleicht als Art Stolpersteine.
Und noch etwas: Das Buch spielt in Ostthüringen, mit dem Zentrum Kahla. Der Autor ist Ungar, der lauf Wikipedia in Budapest und Berlin lebt, aber jedenfalls nicht in Kahla. Und doch gibt es sehr viel Orte in dem Buch, die es auch real gibt. Da ist die Rede von einem Plattenladen MR MUSIC in Jena in der Kanaischen Straße. Es ist die Rede vom Café Wagner. In Kana trinkt man Kaffe aus der Kaffeerösterei Markt 11 Und das sind nur Jenaer Orte, die mir aufgefallen sind. Die Kahler Nazis wohnen im Roman in der Burgstr. 19, auch Burg 19 genannt. Es gibt noch mehr in der Art. Der Autor hat offensichtlich sehr genau recherchiert. Das ist wirklich beeindruckend.
Das Lesen ist mir oft schwergefallen, das mag meine Schuld sein, weil man das Buch vielleicht anders als andere Bücher lesen muß: Bedingt durch die unendliche Abfolge an Teilsätzen fließt das Buch, mir fällt kein besserer Vergleich ein. Man kann eigentlich nicht aufhören zu lesen, weil man keinen Ruheplatz findet, an dem man wieder einsteigen kann. Aber: das ist auch gar nicht nötig. Es gibt keine stringente Handlung, die Geschichte ist weitgehend beschreibend, mit Handlung. Das macht es aber auch einfach, wieder einzusteigen, weil es eigentlich ziemlich egal ist, an welcher Stelle man in den Fluß steigt. Es ist immer noch die Saale.
Ist es nun der deutsche (sicherlich nicht) Roman über ostdeutsche Neonazis?
Nein. Dafür ist das Buch viel zu phantastisch. Es ist keine Dokumentation, nicht mal über die Kahler Neonazi-Szene. Auf der anderen Seite: Es gab/gibt diese Szene. Der NSU kommt aus Jena. Das Braune Haus hatte zentrale Bedeutung für Thüringer Neonazis (es gibt es nicht mehr, der Artikelabschnitt bei Wikipedia ist veraltet)
Leseempfehlung? Für mich eindeutig ja, ich werde mir das Buch vielleicht in ein paar Monaten erneut vornehmen. Für alle anderen: Ja, für die Neugierigen, die bereit sind, sich auf unbekanntes Terrain zu begeben
#ausgelesen
Haben sie Satantango von Laszlo Krasznahorkai gelesen oder die Verfilmung Bela Tarrs geschaut?
Nein, sollte ich? Es gibt so unendlch viel, was ich noch lesen/sehen sollte…