László Krasznahorkai, Herscht 07769

Was für ein Roman!

Am Anfang ste­hen Brie­fe an Ange­la Mer­kel wegen des Urknalls, dann kom­men Neo­na­zis in einer thü­rin­gi­schen Klein­stadt, Bach spielt eine Rol­le, Wöl­fe, der NABU, und am Ende sind vie­le Men­schen tot, ver­brannt, erschla­gen, erschos­sen, Selbst­mord, Ver­kehrs­un­fall, Schlag­an­fall, Demenz.

Das Buch spielt in Kana, das zwei­fels­frei Kahla ist.
Der Held ist Flo­ri­an, ein jun­ger Mann, stark und tumb, dabei sanft und ehr­lich, der wohl Voll­wai­se ist, jeden­falls wur­de er von einem Kanaer Nazi, immer nur der Boss genannt, aus einem Heim geholt. Der Boss beschäf­tigt Flo­ri­an als nütz­li­che und bil­li­ge Arbeits­kraft und ver­sucht auch, aus Flo­ri­an einen anstän­di­gen Nazi, in sei­ner Spra­che, anstän­di­gen Deut­schen, zu machen, was ihm aber auf­grund von Flo­ri­ans gren­zen­lo­ser Nai­vi­tät nicht gelingt, er gibt es auch bald auf. Neben dem Nazis­mus hat der Boss eine wei­te­re Lei­den­schaft: Bach. Ja, JSB. Dafür stellt er in Kana sogar ein Sin­fo­nie­or­ches­ter zusam­men. Es ist Kana, also eine Klein­stadt, in der man natür­lich nicht genü­gend Musi­ker für Bach-Wer­ke zusam­men­be­kommt. Das Orches­ter gibt es zwar, aber die Musi­ker spie­len viel lie­ber rum­mel­platz­taug­li­che Musik, Beat­les, Abba, so etwas — zumal Bach eben auch tech­nisch zu schwie­rig ist. Und doch besteht der Boss auf Bach, und so müs­sen sie auf sei­nen Befehl hin wöchent­lich in der Turn­hal­le üben, üben, üben — manch­mal von Flo­ri­an beauf­sich­tigt, der übri­gens im Ver­lauf des Romans einen tie­fen Zugang zu Bach findet.
Bei die­sem Bild: Der Nazi, der eine Pro­vinz­ka­pel­le zu Bach zwingt, kommt ein Grund­merk­mal des Romans zum Vor­schein: Absur­di­tät. Nicht Komik, ganz und gar nicht. Solch sur­rea­le Absur­di­tä­ten durch­zie­hen das gan­ze Buch.
Der Boss hat eine Fir­ma, die auf die Ent­fer­nung von Graf­fi­ti spe­zia­li­siert ist. In ganz Thü­rin­gen wer­den Bach-Stät­ten immer wie­der mit Graf­fi­ti beschmiert, der Boss besei­tigt die­se umge­hend, nicht allein, er ist auch der unum­strit­te­ne Chef einer Neo­na­zi­trup­pe von viel­leicht 5, 6 Neo­na­zis, die wer­den dazu ver­don­nert, sich auf die Lau­er zu legen, um den Schmier­fink auf fri­scher Tat zu ertap­pen, was aber nicht gelingt.

Die ers­ten zwei Drit­tel des Buches plät­schern so dahin, wir wer­den ins gan­ze Pan­op­ti­kum einer Klein­stadt ein­ge­führt: Die Post­stel­le, die Biblio­the­ka­rin, der pen­sio­nier­te Phy­sik­leh­rer, der eine Wet­ter­sta­ti­on im Inter­net betreibt und vie­le ande­re Per­so­nen, alle leicht, aber wirk­lich nur sehr leicht, skurril.
Da pas­siert recht wenig, das ist nichts für Leser, die auf schnel­le Hand­lung war­ten, ich habe mich teil­wei­se wirk­lich gequält.

Dafür wird es im let­zen Drit­tel umso rasan­ter und wirk­lich aber­wit­zig, das ist teil­wei­se schon fast Splat­ter, doch dazu möch­te ich nichts ver­ra­ten. Wie gesagt, am Ende sind dann vie­le tot.

Eins muß unbe­dingt erwähnt wer­den: Die Form des Romans. Man fängt also an zu lesen, liest die ers­te, die zwei­te Sei­te und wun­dert sich: Kein Satz­en­de. Man blät­tert schnell wei­ter und stellt fest: Das gesam­te Buch, 400 Sei­ten, besteht aus einem ein­zi­gen Satz. Natür­lich gibt es jede Men­ge Satz­zei­chen, aber eben nur einen ein­zi­gen Punkt. Für mich hat es das Lesen nicht ein­fa­cher gemacht, vor allem nicht, wenn man wie­der rein­kom­men muß. Es gibt zwar fünf Kapi­tel, aber dann doch nicht wirk­lich. Die sind ein­fach durch schein­bar erra­ti­sche Über­schrif­ten abge­trennt, es gibt kei­ne inhalt­li­che Tren­nung. Dann gibt es noch Merk­wür­dig­kei­ten, deren Sinn (wenn es denn einen gibt) sich mir nicht erschließt: So wer­den Schimpf­wör­ter kon­se­quent ohne Voka­le benutzt, also etwa vrflcht. An bestimm­ten Stel­len wer­den Wör­tern grund­sätz­lich ein Leer­zei­chen unter­ge­scho­ben, also etwa: unterg escho­ben. War­um? Ich weiß es nicht, viel­leicht als Art Stolpersteine.

Und noch etwas: Das Buch spielt in Ost­thü­rin­gen, mit dem Zen­trum Kahla. Der Autor ist Ungar, der lauf Wiki­pe­dia in Buda­pest und Ber­lin lebt, aber jeden­falls nicht in Kahla. Und doch gibt es sehr viel Orte in dem Buch, die es auch real gibt. Da ist die Rede von einem Plat­ten­la­den MR MUSIC in Jena in der Kanai­schen Stra­ße. Es ist die Rede vom Café Wag­ner. In Kana trinkt man Kaf­fe aus der Kaf­fee­rös­te­rei Markt 11 Und das sind nur Jena­er Orte, die mir auf­ge­fal­len sind. Die Kah­ler Nazis woh­nen im Roman in der Burg­str. 19, auch Burg 19 genannt. Es gibt noch mehr in der Art. Der Autor hat offen­sicht­lich sehr genau recher­chiert. Das ist wirk­lich beeindruckend.

Das Lesen ist mir oft schwer­ge­fal­len, das mag mei­ne Schuld sein, weil man das Buch viel­leicht anders als ande­re Bücher lesen muß: Bedingt durch die unend­li­che Abfol­ge an Teil­sät­zen fließt das Buch, mir fällt kein bes­se­rer Ver­gleich ein. Man kann eigent­lich nicht auf­hö­ren zu lesen, weil man kei­nen Ruhe­platz fin­det, an dem man wie­der ein­stei­gen kann. Aber: das ist auch gar nicht nötig. Es gibt kei­ne strin­gen­te Hand­lung, die Geschich­te ist weit­ge­hend beschrei­bend, mit Hand­lung. Das macht es aber auch ein­fach, wie­der ein­zu­stei­gen, weil es eigent­lich ziem­lich egal ist, an wel­cher Stel­le man in den Fluß steigt. Es ist immer noch die Saale.

Ist es nun der deut­sche (sicher­lich nicht) Roman über ost­deut­sche Neonazis?
Nein. Dafür ist das Buch viel zu phan­tas­tisch. Es ist kei­ne Doku­men­ta­ti­on, nicht mal über die Kah­ler Neo­na­zi-Sze­ne. Auf der ande­ren Sei­te: Es gab/gibt die­se Sze­ne. Der NSU kommt aus Jena. Das Brau­ne Haus hat­te zen­tra­le Bedeu­tung für Thü­rin­ger Neo­na­zis (es gibt es nicht mehr, der Arti­kel­ab­schnitt bei Wiki­pe­dia ist veraltet)

Lese­emp­feh­lung? Für mich ein­deu­tig ja, ich wer­de mir das Buch viel­leicht in ein paar Mona­ten erneut vor­neh­men. Für alle ande­ren: Ja, für die Neu­gie­ri­gen, die bereit sind, sich auf unbe­kann­tes Ter­rain zu begeben

 

#aus­ge­le­sen

 

4 Comments

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  1. Haben sie Sat­an­t­an­go von Lasz­lo Kraszn­ahor­kai gele­sen oder die Ver­fil­mung Bela Tarrs geschaut? 

    1. Nein, soll­te ich? Es gibt so unendlch viel, was ich noch lesen/sehen sollte… 

  2. Ja, der Film ist wohl zumin­dest ein gro­ße Emp­feh­lung mei­ner­seits. Vor allem bei die­sem soll­te man sich jedoch auf etwas nicht ganz usu­el­les gefasst machen, nicht zuletzt auch wegen der exor­bi­tan­ten Länge… 

    1. Ich mein­te natür­lich “eine gro­ße Empfehlung”. 

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