Als Zonenkind ist Stalinismus mir nur in der völlig verharmlosenden Form “Personenkult, wurde nach Stalins Tod gefixt” beigebracht worden, der Hitlerfaschismus aber in aller Breite.
Ich will das wenigstens ansatzweise verstehen: warum kann man Millionen Menschen umbringen ohne größeren Widerstand? Für den deutschen Faschismus hat Götz Aly eine entmutigende Antwort geliefert: der deutsche Faschismus war eine Gefälligkeitsdiktatur, zu Gefallen der deutschen Bevölkerung und zum Sterben der Juden und der Menschen in den eroberten Gebieten.
Doch wie war das unter Stalin, dessen Bodycount ähnlich groß wie der Hitlers war, wenn nicht größer? Hat hier auch eine Bevölkerung profitiert, wenigstens ein Teil? Warum hat der Stalinismus sich viel länger als der Hitlerismus halten können?
Baberowski liefert hier eine ähnlich ernüchternde Antwort wie Aly für den Hilterfaschismus: Brutalster Terror gegen alle und jeden. Stalin hat über Jahrzehnte die sowjetische Bevölkerung terrorisiert. Ob Genozid durch Hunger (Holodomor — wichtig auch für das Verständnis des aktuellen Ukraine-Konflikts), ob der “Kampf gegen das Kulakentun”, ob der Große Terror von 1937/38, das Verheizen von Hunderttausenden oder Millionen Frontsoldaten im Großen Vaterländischen Krieg, ob der Terror gegen Juden auch nach 1945, ob die Annexion der baltischen Staaten samt Russifizierung — es läßt sich weiterführen.
Anders als der Hitlerfaschismus beruhte der Stalinsmus auf blankem Terror.
Aber warum? Eine Antwort dürfte sein: Stalins Verfolgungswahn. Überall hat er Verräter und Feinde gesehen, und die Geheimdienste mußten ständig neue Verräter und Feinde nicht nur finden, sondern auch liquidieren. Und deren Familien waren natürlich auch zu liquidieren, deren ethnisches und soziales Umfeld ebenso,
Und auch die Täter konnten nicht sicher sein: Alle NKWD-Chefs wurden erschossen, der letzte dann unter Chrustschow nach Stalins Tod. Faktisch die komplette Führungsriege der Bolschewiki wurde ermordet, die Generalität kurz vor dem Überfall Deutschlandas auf die Sowjetunion ebenso.
Ganze Völker wurden innerhalb von Stunden(!!) tausende Kilometer umgesiedelt (Tataren, Deutsche, Tschetschenen…) — wieviele schon auf dem Transport verhungerten, verdursteten, erfroren, zu Tode gedrückt oder einfach nur erschlagen wurden — wer weiß es schon?
Der Stalinismus hat, jedenfalls scheint es mir so nach Lektüre des Buches, ausschließlich über Terror funktioniert. Terror in all seinen blutigen Formen, Terror gegen wortwörtlich alle.
Baberowski ist Wissenschaftler. Der Fußnotenanhang ist schon von der schieren Göße her beeindruckend, darunter sind viele Archivmaterialien.
Und doch: Auch er schreibt die Geschichte nicht nur auf, sondern fragt auch: Warum ist es so gekommen? Mir persönlich — ich weiß bedeutend weniger als der Autor — wird die Antwort zu sehr in der Person Stalin gesucht. Ich frage mich, welche Rolle Traditionen hatten, die im Zarenreich lagen und über Lenin bei Stalin ankamen.
X‑Ray fehlt definitiv, das ist ein großes Manko für des E‑Book.
Leseempfehlung? Für alle, die sich im speziellen für Stalinismus und im weiteren dafür interessieren, warum Rußland heute so ist wie es ist, warum die Balten und die Ukrainer Angst vor großrussischen Fantasien haben: für die: unbedingt!
Aber das wäre eben ein sehr spezielles Lesepublikum, ich weiß.
#ausgelesen