Christiane Ritter, eine Frau erlebt die Polarnacht

1934 bekommt eine Frau wohl in Süd­deutsch­land oder Öster­reich einen Brief ihres Man­nes:

Gar zu ein­sam wird es ja für Dich nicht wer­den, da an der Nord­west­ecke der Küs­te, unge­fähr 90 Kilo­me­ter von hier, noch ein Jäger, ein alter Schwe­de, haust. Den kön­nen wir im Früh­jahr, wenn das Licht zurück­kommt und das Meer und die Fjor­de zuge­fro­ren sind, ein­mal besuchen.

Der Mann, eigent­lich Schiffs­of­fi­zier, ist seit Jah­ren als Jäger auf Spitz­ber­gen unter­wegs. Er lädt sie in die­sem Brief für ein Jahr in sei­ne Hüt­te auf Spitz­ber­gen ein. Ein Jahr, also mit Polar­nacht und Polar­tag, mit Som­mer und Win­ter. Die Hüt­te steht ca. 250 Kilo­me­ter von der nächs­ten mensch­li­chen Sied­lung ent­fernt auf And­re­e­land im Nor­den Spitz­ber­gens — etwa hier. Und was macht die Frau, aus gutem Hau­se und ohne jeg­li­che Ark­tis-Erfah­rung, eine Toch­ter zu Hau­se, den Mann wohl seit Jah­ren nicht gese­hen? Sie packt ihre Sachen und fährt nach Spitzbergen.

Auf dem Weg zur Hüt­te stößt noch ein nor­we­gi­scher Jäger hin­zu, wohl so Mitte/Ende 20.

Die Hüt­te gibt es heu­te noch (Klick aufs Bild gibt wei­te­re Bilder): Ritterhytte

Mehr Bil­der hier. Wie groß mag die Hüt­te sein? Kaum mehr als 20 m², schät­ze ich mal. Zwei Män­ner, eine Frau, ein Jahr lang. Kein Tele­fon, kein Radio, kei­ne Zei­tung, kei­ne Nach­barn, kei­ne Stra­ße, kei­ne Ein­kaufs­mög­lich­kei­ten, kein Strom, nur ein rie­si­ger Kühlschrank.

Die Natur wird sehr inten­siv beschrie­ben, vor allem das Licht und die Far­ben (die Frau ist auch Male­rin, das wird eine Rol­le gespielt haben) Am meis­ten hat mich die Beschrei­bung der Polar­nacht und des begin­nen­den Win­ters beein­druckt. Das muß man sich mal vor­stel­len: Kein Leben, nir­gends. Es gibt kei­ne Pflan­zen, auch kei­ne Moo­se oder Far­ne. Kei­ne Insek­ten, kei­ne Säu­ge­tie­re, nicht ein­mal Vögel. Nichts. Buch­stäb­lich alles ist tot. Dabei ist die Frau wochen­lang allein, weil die Män­ner auf Jagd sind. Inklu­si­ve gleich anfangs eines neun­tä­gi­gen star­ken Schnee­stur­mes. Wahr­schein­lich machen wir uns gar kei­ne Vor­stel­lung davon, was dort ein star­ker Schnee­sturm ist. Irgend­wann kom­men die Män­ner zurück (Erin­ne­rung: Kei­ne Funk­ge­rä­te!). Dann geht der Nor­we­ger mal eben für zwei Mona­te allein auf Jagd. Die bei­den bekom­men aber ein Pro­blem: Das Fleisch geht zur Nei­ge, und wie gesagt: Es gibt kein Leben. Leben kommt erst mit dem Pack­eis von Nor­den, das die Rob­ben und damit die Eis­bä­ren mit­bringt. Eine Rob­be kann 500 Kilo Fleisch lie­fern, das reicht für vie­le Mona­te. Aber das Eis ist eben noch nicht da, und so gehen die bei­den (erfolg­los) auf Jagd.
Da ist es beim Lesen ganz hilf­reich, eine Kar­te zur Hand zu haben. Goog­le Maps ent­fällt natür­lich, aber es gibt eine her­vor­ra­gen­de topo­gra­fi­sche Spitz­ber­gen-Kar­te: https://toposvalbard.npolar.no/ — da kann man sehr schön die Orte sehen, die im Buch vor­kom­men (Manch­mal sind die Namen ein­ge­deutscht, aber man kriegts mit Hil­fe von Goog­le schon hin, die Kar­te will die nor­we­gi­schen Namen haben)

Wie gesagt, die Natur­schil­de­run­gen sind wirk­lich ein­drück­lich, und auch die Refle­xio­nen über den eige­nen Punkt im Weltengefüge.
Manch­mal sind mir die Schil­de­run­gen und Gedan­ken zu natur­re­li­gi­ös, aber so ist die Autorin eben.

Das Buch wird wohl zu Recht als Klas­si­ker der Ark­tis-Lite­ra­tur bezeich­net, aber mir als (heu­ti­gem) Leser blei­ben vie­le offe­ne Fragen:

  • War­um über­haupt fährt sie dort­hin? Sie schreibt zwar, daß sie schon immer an der Ark­tis inter­es­siert war, aber dann liest es sich doch so, als wol­le sie mal eben ihren Bru­der in Wan­ne-Eickel für ein Wochen­en­de besuchen.
  • Wie ver­rich­ten die ihre Not­durft? Da wird tage­lang wegen Schnee­sturm nicht aus der Hüt­te gegan­gen — aber auch wenn man raus­kommt: Wo/wie dann? Wahr­schein­lich war es 1936 nicht schick­lich , dar­über zu schrei­ben — aber es inter­es­siert mich dennoch.
  • Zwei Män­ner und eine Frau, alle ver­gleichs­wei­se jung, über Mona­te auf engs­tem Raum: Was ist da mit Sex?
  • War­um kei­ne Funk­ge­rä­te? Umber­to Nobi­le wur­de 1928 ganz in der Nähe nur dank eines Funk­ge­rä­tes geret­tet, das müs­sen die gewußt haben. Die ande­ren Jäger (der nächs­te schlap­pe 90 Kilo­me­ter ent­fernt, ohne Bus­hal­te­stel­le) schei­nen auch kei­ne zu haben, lags am Geld vielleicht?
  • War­um redet sie immer nur von ihrem Mann, nennt ihn aber nicht ein ein­zi­ges mal beim Namen?
  • War­um fischen sie nicht? Das Nah­rungs­pro­blem ist ja akut.

Das Buch ist trotz der inten­si­ven Natur­be­schrei­bun­gen ganz sicher kei­ne ganz gro­ße Lite­ra­tur, Reich-Rani­cki hät­te wohl ein Grrr­räß­lich beigesteuert.

Lese­emp­feh­lung? Kommt drauf an. Für jeden Ark­tis-Jun­kie auf jeden Fall. Für alle ande­ren: Viel­leicht wer­det ihr nach der Lek­tü­re ja zum Arktis-Junkie 🙂

Anle­sen könnt ihr das Buch hier.

 

#aus­ge­le­sen #addicted­to­the­arc­tic

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