Erste Lektüre: Der Winter unsres Mißvergnügens — wo die Verbindung zu Steinbecks The winter of our discontent liegt, weiß ich nicht. Es muß einen Zusammenhang geben, der Zufall wäre allzugroß.
Wo beginnen? Wer Heym nicht kennt: Hier entlang. Das Büchlein ist kein Roman, es sind Tagebuchnotizen, bearbeitet, um Rückblenden erweitert, kurz: dann doch Literatur. Der erste Eintrag datiert vom 16. November 1976, dem Tag, an dem Biermann offiziell ausgebürgert wurde. Zur Erinnerung:
Die zuständigen Behörden der DDR haben Wolf Biermann, der 1953 aus Hamburg in die DDR übersiedelte, das Recht auf weiteren Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik entzogen.
Diese Entscheidung wurde auf Grund des »Gesetzes über die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik – Staatsbürgerschaftsgesetz – vom 20. Februar 1967«, Paragraph 13, nach dem Bürgern wegen grober Verletzung der staatsbürgerlichen Pflichten die Staatsbürgerschaft der DDR aberkannt werden kann, gefaßt.
Biermann befindet sich gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland. Mit seinem feindseligen Auftreten gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik hat er sich selbst den Boden für die weitere Gewährung der Staatsbürgerschaft der DDR entzogen. Sein persönliches Eigentum wird ihm – soweit es sich in der DDR befindet – zugestellt.
So war das damals. Heym glaubt, daß das eine völlig destruktive Entscheidung ist, weil jeder ehrliche Schriftsteller sich auflehnen wird, er notiert ätzend: “[…] das Ausbürgern würde sich einbürgern, wenn jetzt nicht gesprochen wird.”
Woraus dann der Protest wird.
(Bild von https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0213_bie&object=context&l=de)
Nina Hagen dabei — wohl wegen ihrer Mutter und weil Manfred Krug ihr Ziehvater war — und der nahm kein Blatt vor den Mund, der war ein Haudrauf.
Zurück zu Heym: Natürlich entsteht eine solche Resolution, die direkt Honecker angreift (Hermlin war Honeckers Duzfreund, der wußte, daß man Biermann nicht ohne dessen Placet ausbürgern kann). Und darüber geht dann das Tagebuch: Die Ausbürgerung, der offene Brief, die Folgen von beidem.
Interessant ist die Lebenswelt von Heym: Der hat überall den Mund aufgemacht und gesagt, was er sagen wollte. Der hatte keine Angst vor niemandem, mußte er wohl auch nicht haben, Heym war sakrosankt wie kein anderer (mit Ausnahme von Hermlin vielleicht) Die Schriftsteller (und ein paar Schauspieler plus Fritz Cremer) waren schnell zu mobilisieren: Sie hatten alle ein Telefon (was durch die gesamte DDR-Zeit ein Privileg war), alle wohnten in/bei Berlin, und immer war die Wohnung oder eher das Haus groß genug, um viele Menschen zu versammeln. Man lese mal, wie Manfred Krug lebte — das hatte mit der Lebenswirklichkeit des ordinären Bürgers nichts mehr zu tun. Heym plant seinen Frankreich-Urlaub. Die DDR ließ sich ihre Vorzeigekünstler was kosten, fraglos. Gleichzeitig wußten alle, daß sie unter ständiger Beobachtung durch die Stasi standen. Telefone wurden abgehört, ständig Bewacher im Schlepptau, Heym wurde durch seine Haushälterin ausspioniert (die Berichte befinden sich im Anhang) Heym selber hat das weniger angefochten, er wußte, daß er am Telefon besser unverbindlich bleibt und ansonsten Narrenfreiheit genießt. Viele andere waren weniger robust und gaben nach Monaten auf und gingen in den Westen. Denn was sollte man machen, wenn man nicht veröffentlichen darf, nicht auftreten darf, keine Filme drehen darf?
Der letzte Eintrag ist vom 24. Dezember 1976, Heym liest zu Hause der Familie die Weihnachtsgeschichte vor: Fürchtet euch nicht!
Das Tagebuch behandelt also nur etwa fünf Wochen, durch Rückblenden dann aber doch einen deutlich größeren Zeitraum.
Und doch: Im Nachgang kann man sagen: Die Biermann-Ausbürgerung hat das Ende der DDR eingeleitet.
Leseempfehlung? Ja, es ist nicht viel Text, aber viel Sprungbrett für eigene Recherchen. Man ist nach Lektüre definitiv klüger als vorher.
Zweite Lektüre: Die Architekten. Ganz anderes Thema, ganz andere Zeit (geschrieben in den 60-ern). Der Roman geht schon mal richtig übel los: Julian Goltz, einst vor den Nazis in die Sowjetunion geflohen, wird von dieser an Hitlerdeutschland ausgeliefert. Er befindet sich in Brest in einem Viehwaggon, die Übergabe steht unmittelbar bevor, er läßt sein Leben Revue passieren, erinnert sich an seine Frau, die im sowjetischen Lager verreckt ist, an ihre Tochter, die er in guten Händen bei einem deutschen Freund in Moskau weiß. Nach Deutschland überstellt zu werden ist ihm eigentlich egal. Er wurde vom NKWD gefoltert, nun wird er von der Gestapo weitergefoltert werden.
Es gibt einen Ausweg: Sich erschießen lassen, und so läuft er los, im Niemandsland zwischen Deutschland und der Sowjetunion.
Von welcher Seite, dachte er, würde die erste Kugel geflogen kommen; dann spürte er sie, ein einziger großer Schmerz.
Uff. Pause, sacken lassen. Das erinnert mich an Christop Hein, da stirbt der Mann genauso trocken (er wird erschlagen)
Das ist aber nur der Prolog, die eigentliche Handlung beginnt später, in Ostberlin in den 50-ern beim Bau der Stalinallee. Die Tochter Julia ist mittlerweile eine junge Frau, verheiratet mit dem Mann, zu dem ihre Eltern sie in Moskau gegeben haben: Arnold Sundstrom. Der ist mittlerweile Chefarchitekt der Stalinallee, angekommen auf dem Karrieregipfel, den Nationalpreis hat er fest in Aussicht. Sie haben beide ein Kind, ein Haus, ein Auto, eine Haushälterin, sie lieben sich — alles in Butter.
Ab hier dekonstruiert Heym den Sundstrom. Es stellt sich zaghaft anfangs, dann immer deutlicher, heraus, daß Sundstrom Julias Eltern damals in Moskau denunziert hat. Dann hat er es in der DDR und ihrer halbgaren Abrechnung mit dem Stalinismus durch Taktieren, Kriechen usw. eben bis zum Chefarchitekten gebracht.
Der Roman spielt nach dem XX. Parteitag der KPdSU, Julia bekommt irgendwie Chrustschows Geheimrede. Nehmt euch 30 Minuten Zeit und lest das. Das ist Jahrhundertgeschichte. Und nach der Lektüre ist nichts mehr wie es vorher war in ihrem Leben.
Ich finde den Roman nicht sonderlich gelungen. Die Dialoge könnten auf Versammlungen gesprochen werden, aber in der Familie, unter Freunden und Kollegen? Kaum. Oder war das in den 50-ern vielleicht doch so?
Es bleibt eine bittere Abrechnung nicht nur mit dem sowjetischen Stalinismus, sondern auch mit dem unterschwelligen Stalinismus, der in der DDR weitergelebt hat. Darin ist der Roman gut.
Leseempfehlung? Jein
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