Juli Zeh spielt natürlich auf Unter Leuten an. Es gibt aber nicht wirklich eine Verbindung, außer daß der Handlungsort hier wie dort ein brandenburgisches Dorf in der Pampa ist. Den Titel finde ich reichlich bemüht, Übermenschentum findet trotz eines Nazis nicht statt.
Es ist ein Roman geworden über die Großstadt gegen das Kaffdorf, über Berliner hedonistische Pseudo-Intellektuelle und Dorfbewohner, deren Problem komplett andere sind, über eine Vater-Tochter-Beziehung, über den Dorfnazi, der ein liebender Vater ist, über die Berliner naive, liberale Städterin, über Corona und wie es die Abgehobenheit der Politik vom Leben herausschält, über Freundschaft und Haß, über den Tod. Über Menschen halt.
Die Heldin Dora (Achtung Klischee: Werbeagentur, Berliner Altbauwohnung, Freund Greta-Groupie), 35 Jahre, hat eine kleine Midlife-Crisis, trennt sich von ihrem Freund, kauft ein heruntergekommenes Haus irgendwo im brandenburgischen und zieht dorthin um.
Zum Haus gehört ein übergroßes verwuchertes Grundstück, so ist das nun einmal in der Pampa, das sie beackert unter Anleitung von Youtube-Videos. Gleich am Anfang stellt sich der Nachbar vor: “Ich bin hier der Dorf-Nazi.” Und ganz zweifellos ist er ein Nazi.
Über die erste Buchhälfte werden weitere (Neben)Figuren eingeführt: Das schwule Pärchen, das AFD wählt. Ein anderer Nachbar, der rassistische Witze auf Fips-Asmussen-Niveau jedem erzählt, der es nicht hören will. Die alleinstehende junge Mutter mit blauen Haarsträhnen, die Nachtschicht schiebt, damit sie ihre zwei Schulkinder wenigstens noch morgens sehen kann. Der Übervater, bedeutender Hirnchirurg, der mit seinem Jaguar ständig zwischen der Charité und dem Wohnort Münster pendelt. Und noch ein paar mehr.
Die eigentliche Geschichte ist die von Dora und Gote, dem Nazi-Nachbarn, und dessen Tochter (8 Jahre? Weiß nicht mehr) Franzi. Keine Angst, keine Liebesgeschichte, aber doch die einer Art Freundschaft. So hilft Gote unaufgefordert Dora, baut ihr ein Bett, die drei malern zusammen im Haus.
Das ist alles ziemlich klischeehaft, und das hat mich anfangs gestört. Jedoch: Das muß so. Juli Zeh entwirft ihre Figuren, entwirft die Bühne (sie selber wohnt ja in einem brandenburgischen Dorf) und läßt sie dann aufeinander los.
Das ist immer spannender zu lesen mit jedem Kapitel.
Die letzen beiden, Gotes Tod und sein Begräbnis, aber vor allem Franzis Schicksal im letzen Kapitel, haben mich dann arg mitgenommen, ja, ich habe geweint.
Zehs Schreibe ist nüchtern und einfach. Hauptsatz, Nebensatz, Hauptsatz. Das ist kein sublimer Stil, paßt aber zu den Figuren und zum Land. Und sie hat feinen Humor, vor allem dort, wo sie die Lebensfremdheit der “Kreativen” in ihren sozialen Filterblasen aufs Korn nimmt.
Man kann dem Roman vorwerfen: er menschelt mit dem Nazi. Zeh läßt keinen Zweifel aufkommen: Gote ist ein Nazi. Wer bei Bier mit den Nazi-Kumpels das Horst-Wessel-Lied grölt, ist ein Nazi. Und doch ist er auch ein hilfsbereiter Nachbar und liebender und sorgender Vater.
Leser, die sich ihr Weltbild aus der 280-Zeichen-Filterblase zurechtservieren lassen, werden damit möglicherweise nicht klar kommen.
Gerne hätte ich gewußt, wie es mit Franzi weitergeht. Wer weiß, vielleicht gibt es ja einen Nachfolgeroman?
Leseempfehlung? Bis ca. zur Hälfte war ich mir nicht sicher. Die Figuren sind Stereotypen, sie stehen für einen Menschentyp, sie entwickeln sich nicht. Doch dann kommt Fahrt auf: Das Verhältnis Dora — Gote — Franzi entwickelt sich doch spannend, und man nimmt Anteil — bis man eben am Ende flennt.
Also: Leseempfehlung!
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