Bei aller Kritik, die noch kommen wird: ein wichtiges Buch. Der Autor ist unwesentlich jünger als ich, hat jedenfalls bis zur Ende einen ähnlichen Werdegang gehabt, ich kann nachvollziehen, was er schreibt.
Zwischen den Zeiten hat im Wesentlichen die Kultur- und Kunstgeschichte der DDR zwischen der Ausbürgerung Biermanns 1976 und dem Wegfall der DDR 1990 zum Gegenstand. Vor der Folie des Stalinismus in der Sowjetunion und der DDR, wobei seine These ist, daß es in der DDR zwar nicht die monströsen stalinschen Verbrechen gab, aber eben auch nie einen wirklichen Bruch mit stalinistischen Denk- und Handlungsmustern. Und mit der Zäsur 1985: Gorbatschow und mit ihm Perestroika und Glasnost, wobei es Decker natürlich zuerst um Glasnost geht — seine Themen sind schließlich Kunst und Literatur.
Im Prolog macht Decker deutlich, worum es ihm geht: Als ehemaliger DDR-Bürger die Deutungshoheit über die DDR-Geschichte zurückzugewinnen, bei ihm heißt das Die Aneignung der eigenen Geschichte durch die Akteure dieser Geschichte.
Die Akteure seiner Geschichten sind vor allem die erste Liga der DDR-Literatur: Christa Wolf, Franz Fühmann, Jurek Becker, Stephan Hermlin, Heiner Müller, Stefan Heym — Dutzende, darunter auch bildende Künstler wie Mattheuer und Tübke. Filmemacher (Konrad Wolf), Schauspieler, er greift in die volle Kiste. Das Buch ist voller Informationen, der Autor hat gründlich recherchiert und steuert ein umfassendes Literaturverzeichnis bei.
Dazu die sowjetischen Schriftsteller und Filmemacher: Bulgakow, Aitmatow, Granin… Abuladse (komischerweise nicht Tarkowski, vielleicht weil der nicht den Stalinismus zum direkten Gegenstand hatte)
Er zeichnet ein Bild einer grauen, sterbenden Gesellschaft, mit Schriftstellern, die ebenfalls nicht atmen können — und, das ist ja schon lange meine These: das gebiert Kunst. Er zitiert Christop Hein:
Es ist eine Merkwürdigkeit, dass ein raueres Klima schönere Blumen hervorbringt. Das spricht nicht für das rauere Klima, Kunst ist eine seltsame Pflanze.
Das ist doch schön formuliert?
Manche geben auf, machen rüber, Jurek Becker, Manfred Krug, Sarah Kirsch, noch viele mehr. Andere bleiben und leiden im Stillen, vor allem an der Zensur. Doch die wird nach 1985 (Gorbatschow) immer zahnloser, und so liest man, daß kurz vor dem Untergang die Zensur faktisch aufgegeben hatte, sehr zur Überraschung der bislang Zensierten.
Aber da war es schon zu spät, die DDR konnte nur noch sterben, die Agonie war nicht mehr zu übersehen. Jedenfalls sage ich mir das heute, 30 Jahre später, vielleicht zu Unrecht?
Überhaupt: Die Fragezeichen. Die setzt Decker in Überzahl ein, weil er viele Fragen stellt. Beziehungsweise: sie seine Gegenstände indirekt stellen läßt.
Und da komme ich zu meiner Kritik: Der Stil. Anfangs las sich das gut, aber so etwa ab der Hälfte wurde es mir immer gezierter, gedrechselter, verschwurbelter. Und ich muß auch nicht zum drölften Male daran erinnert werden, wie bleiern alles war. So wurde das Lesen nach hinten heraus immer schneller, weil ich ganze Passagen nur noch überflog. Was eigentlich Unrecht ist, denn ihm fallen immer wieder neue, überraschende Bilder ein — allerdings zur immer derselben Aussage.
Dazu: Der Autor ist unheimlich belesen. Er hat Philosophie studiert, und leider verleitet ihn das zu exzessivem Namedropping: “Oder, um es mit [Diderot|Voltaire|Kant] zu sagen…” das ist oft ärgerlich, weil es oft nur eine sehr losen oder auch gar keinen Bezug zum Thema hat. Manchmal scheint es, als würde Decker sich selber gerne lesen.
Das Buch könnte um ein Viertel gekürzt werden, ohne Verluste.
Das Buch ist keine wissenschaftliche Abhandlung, auch kein Roman, nein, das ganz und gar nicht. Vielleicht eine Sammlung von Feuilletons zu einem gemeinsamen Thema.
Leseempfehlung? Ja, wenn
- Du generell an Kunst und Literatur im Spannungsfeld zur Politik interessiert bist
- Du speziell an DDR- und BRD-Geschichte interessiert bist
- Du Dich für Spätwirkungen des Stalinismus interessierst
- sowieso open minded bist
Ansonsten eher nein.
Ich habe es interessiert gelesen, und werde wohl das eine oder andere DDR-Buch erneut lesen.
#ausgelesen