
Die Fakten kann man überall nachlesen: Ein dystopischer Roman, geschrieben 1920 in Rußland von einem russischen Revolutionär, zuerst erschienen in der Sowjetunion 1988, anderenorts war er natürlich längst erschienen, Orwell hatte ihn gelesen und 1984 ist ohne Wir kaum denkbar.
Worum geht es? Das ist gar nicht so einfach. Der Roman ist in ich-Form geschrieben und richtet sich immer wieder direkt an den Leser. Der Autor hat keinen Namen, keine Figur hat einen Namen, es gibt nur Nummer. Der Autor ist D‑503, alle anderen Figuren haben ähnliche Bezeichnungen, bis auf den großen Diktator, der heißt Wohltäter. Der Staat heißt Einziger Staat, die Polizisten sind die Beschützer. D‑503 ist der Chefkonstrukteur eines Raketenflugzeuges “Integral”, wofür das gedacht ist, ist mir nicht klar geworden. Der Einzige Staat hat ein Ziel: jede Individualität, jede Freiheit auszulöschen, deshalb auch keine Namen.
Ist die Freiheit des Menschen gleich Null, begeht er keine Verbrechen. Das ist völlig klar. Das einzige Mittel, den Menschen vor dem Verbrechen zu bewahren, ist, ihn vor der Freiheit zu bewahren.
Der Autor ist ein nüchterner Ingenieur, er meint wirklich, daß der Einzige Staat alles richtige für die Menschen Nummern tut. Und es geht ihnen gut, scheinbar hat jeder Arbeit, für jeden sorgt der Staat. Der teilt dann auch Sexpartner zu, die dann für 20 Minuten sich treffen und dabei die Gardinen schließen dürfen. Ansonsten sind die Häuser gläsern, jeder kann/darf/soll jeden sehen.
Es gibt wiederkehrende Massenveranstaltungen, um dem Einzigen Staat und dem Wohltäter zu huldigen, dabei werden auch Nummern, die nicht zu 100% auf Linie sind, vom Wohltäter persönlich hingerichtet.
Jedenfalls verliebt sich K‑503 eines Tages in I‑330, die ihn in eine neue Welt einführt. Es gibt da ein Haus, verwinkelt, undurchsichtig, mit einer kauzigen alten Frau am Eingang, dort treffen sie sich. I‑330 ist geheimnisvoll, es stellt sich aber bald heraus, daß sie zu einer Art Opposition gehört, die sich den Integral schnappen wollen, wofür, ist nicht klar. Dem Einzigen Staat entfliehen oder die Rakete als Waffe gegen den Staat richten?
Der Starttermin von Integral kommt immer näher, und K‑503 weiß nicht wirklich, was passieren wird. Gleichzeitig gibt es eine staatliche Kampagne: Der Einzige Statt hat erkannt, was die Nummern am absoluten Glück noch hindert: Die Phantasie.
Aber das ist kein Problem, man hat erkannt, daß zwei Spritzen direkt ins Gehirn reichen, um die Phantasie ein für alle mal auszuschalten. Und so müssen sich alle spritzen lassen. Die Kolonnen, die dann aus der “Klinik” kommen, werden beschrieben, als hätte Ridley Scott sie direkt für sein Apple-Video verwendet. Bedrückend. Und auch D‑503 empfängt die Spritze. Er verrät I‑330, die gefoltert wird, ihn aber nicht verrät, dafür hingerichtet wird — sie wäre in jedem Falle hingerichtet worden.
Am Ende ist der Autor wunschlos glücklich.
Der Roman ist nicht ganz einfach zu lesen, es gibt keine stringente Handlung, eher ein Aufeinanderfolgen von Szenen, Bildern — er liest sich wie Eisenstein geschnitten hat, Majakowski gedichtet hat, Malewitsch gemalt hat.
Für mich hat er nicht, glücklicherweise nicht, die absolute Hoffnungslosigkeit von 1984, aber bleibt natürlich harte Kost.
Leseempfehlung? Ja!
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