Umberto Eco, der Friedhof in Prag

Man soll­te die­ses Buch ein­mal lesen. Dann soll­te man neu­zeit­li­che ita­lie­ni­sche und fran­zö­si­sche Geschich­te stu­die­ren, dann den Roman noch­mal lesen. Dann euro­päi­sche Reli­gi­ons­ge­schich­te und fran­zö­si­sche Lite­ra­tur stu­die­ren, ein paar Jahr­zehn­te über die­se Fel­der for­schen und dann den Roman noch­mal lesen.

Hab’ ich alles nicht, und so ste­he ich nach Ende der Lek­tü­re mit offe­nem Maul da: Woher hat der Mann all das Wis­sen, was für ein Gehirn hat er, all die fast unsicht­ba­ren Quer­ver­bin­dun­gen zu fin­den, wann hat der all die Quel­len gele­sen und wie in sei­nem Gehirn auf­be­wahrt? Mir kommt Sher­lock – Sein letz­ter Schwur in den Sinn, Magnus­sens Gedan­ken­pa­last. Eco war unfaß­bar gebil­det, und das macht die Lek­tü­re zum Genuß, aber auch zur stän­di­gen Her­aus­for­de­rung — des­halb mein scherz­haf­ter Vor­schlag Lesen — Stu­die­ren — Lesen — Stu­die­ren — Lesen.

Die Geschich­te ist wild: Sie spielt in Ita­li­en und dann in Frank­reich in der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts. Der “Held” namens Simo­ni­ni ist ein Doku­men­ten­fäl­scher und wird wäh­rend des Romans zum viel­fa­chen Mör­der. Er nimmt an Gari­bal­dis Feld­zü­gen teil, die nach der Erobe­rung des Kir­chen­staa­tes in der ita­lie­ni­schen Eini­gung enden. Danach lebt er in Paris (wo er auch den jun­gen Sig­mund Freud ken­nen­lernt), dient sich erfolg­reich diver­sen Geheim­diens­ten an, erlebt die Pari­ser Kom­mu­ne, er ermög­licht mit sei­nen Fäl­schun­gen die Drey­fus-Affä­re; sein größ­ter “Erfolg” aber ist die Mit­er­fin­dung der Pro­to­kol­le der Wei­sen von Zion. Allein wie Eco die Geschich­te der Pro­to­kol­le auf­drö­selt ist groß­ar­ti­ge Literatur.
Simo­ni­ni haßt Frau­en, noch mehr haßt er Juden.
Das ist dann auch das eigent­li­che The­ma des Romans: der Anti­se­mi­tis­mus als größ­te Ver­schwö­rungs­theo­rie der Geschich­te. Anti­se­mi­tis­mus hat eine ganz lan­ge Geschich­te, und im Frank­reich des aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­derts war er offen­sicht­lich Main­stream, durch alle reli­giö­sen und poli­ti­schen Lager (ja, auch bei den Linken)

Eco war auch ein Schalk: Das ist nicht ein­fach ein Roman, aus einer Ich- oder einer Erzäh­ler­per­spek­ti­ve geschrie­ben. Nein. Simo­ni­ni schreibt ein Tage­buch, das ist die Grund­la­ge des Romans. Aber Simo­ni­ni ist auch schi­zo­phren, sein alter ego ist ein Abbé, der sei­ner­seits das Tage­buch ergänzt und berich­tigt. Und noch: Bei­de tre­ten in Dia­log, reden in dem Tage­buch (aber nicht rea­li­ter) mit­ein­an­der, strei­ten, belei­di­gen sich gar.
Doch damit nicht genug, es tritt dann noch eine drit­te, kom­men­tie­ren­de Per­son auf, namen­los, sie nennt sich nur der ERZÄHLER. Da kann einem schon mal der Kopf schwirren 🙂

Ja aber auch das ist nicht genug: Eco wäre nicht er, wür­de er nicht mit dem Leser spie­len. Und so sind ALLE (bis auf Simo­ni­ni und natür­lich den Abbé) Per­so­nen in dem Roman, und das sind ver­dammt vie­le, his­to­risch belegt. Und sie han­deln in dem Roman so, wie sie auch zu Leb­zei­ten gehan­delt haben.
Das wird mit einem aus­führ­li­chen Per­so­nen­ver­zeich­nis belegt, dazu kommt eine aus­führ­li­che Zeittafel.

Kurz: Wahn­sinn!

Noch eine Bemer­kung zur Aus­ga­be: Ich lese ja fast aus­schließ­lich Kind­le, in die­sem Fal­le war es ein Feh­ler: Das Buch ist lieb­los gesetzt, zwei- und andert­halb­zei­li­ge Abstän­de sprin­gen wild durch­ein­an­der, Font­grö­ßen eben­so, es gibt recht vie­le zeit­ge­nös­si­sche Illus­tra­tio­nen (die natur­ge­mäß auf einem E‑Reader eher nicht gut aus­se­hen). Fuß­no­ten sind halb­her­zig umge­setzt — aber was gar nicht geht: Man hat kein X‑Ray ver­wen­det, eine Tech­no­lo­gie, wie geschaf­fen für Bücher mit vie­len Per­so­nen, vie­len Hand­lungs­or­ten wie hier.
Kurz: die gebun­den Aus­ga­be wäre wohl sinn­vol­ler gewesen.

Lese­emp­feh­lung? Wollt ihr mich verarschen?

#aus­ge­le­sen

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