Was für ein Thema. Der Autor hat von Anfang an an der Verteidigung Leningrads gegen die Wehrmacht teilgenommen.
Nur zum Luft holen: 900 Tage Belagerung, über eine Millionen Tote in Leningrad, nicht an Herzinfarkt oder Kopfschuß gestorben, sondern an Hunger, Typhus, Skorbut…
Eine. Million. Tote. In. Einer. Einzigen. Stadt.
Eine. Million. Tote. In. Einer. Einzigen. Stadt.
Eine. Million. Tote. In. Einer. Einzigen. Stadt.
Granin war Anfang 20, als er sich als Leningrader selbstverständlich zur Volkswehr (das scheint — Zonis werden es kennen — so eine Art Zivilverteidigung gewesen zu sein) meldete, in Erwartung der Deutschen.
Der Roman ist 2011 erschienen, Granin Jahrgang 1919, er war also über 90 bei Erscheinen. Allein deswegen muß man das Buch lesen.
Er konstruiert raffiniert: Da ist D. (was für Daniil steht): ein leicht naiver junger Mann, frisch verheiratet, der Leningrad verteidigen will. Und da ist “der Leutnant”, Granins alter Ego, ein Panzerkommandeur, am Krieg gebrochen, verbittert. Und der alte Autor selber im Rückblick auf sein Leben in und nach dem Krieg.
Und dieser Rückblick ist eine schonungslose, ehrliche Abrechung mit dem Stalinismus, hier in Form der mörderischen sowjetischen Armeeführung.
Diese »Schützengrabenwahrheit« passte nicht zu der Wahrheit der Memoiren von Generälen, zur Wahrheit der Stäbe, den Berichten des Informationsbüros, den Zeitungsartikeln. Die Soldaten jedoch hatten ihre eigene bittere Wahrheit: fliehende Truppen, die ihre Führung verloren hatten, eingekesselte Divisionen und Armeen, aus denen sie zu Zehntausenden in Gefangenschaft gerieten, verbrecherische Befehle von Kommandierenden, die ihre Vorgesetzten mehr fürchteten als den Gegner.
Und weiter:
Ich weiß nicht, wer sich die Losung »Tod den deutschen Okkupanten!« ausgedacht hat, aber sie wurde zu unserem ideologischen Banner. Die Okkupanten sollten nicht aus dem Land gejagt, sie sollten getötet werden. Als wir von Hitlers Plan zur Vernichtung der Slawen erfuhren, ging der Krieg in einen Mordfeldzug über. Wir werden sie auch vernichten. »Tod den deutschen Okkupanten!« Auf diese Weise verwandelte sich der Krieg Ende 1941 in eine Vernichtungsmaschinerie.
Wohlgemerkt: Der Krieg ging auch in einen Mordfeldzug gegenüber den Deutschen über. Als junger Mann hatte ich Ilja Ehrenburg gelesen — der Mann war ein Mordagitator. Denken wir kurz an Demmin (nur lesen, wenn ihr stark seid)
Granin beschreibt seine Monate und Jahre im Schützengraben vor Leningrad, nicht ohne Absurditäten:
Im Niemandsland gab es eine Schlucht, in der – wie auch immer – ein Schwarzmarkt entstanden war. Die Händler hinterließen einander etwas, vielleicht warfen sie es auch rüber. Die Deutschen tauschten ihr Weißbrot gegen Machorka, denn sie mochten unseren starken Tabak. Für uns war Weißbrot ein Leckerbissen. Außerdem übten Wodka, Filzstiefel und selbstgebaute Steinschloss-Feuerzeuge eine große Anziehungskraft auf sie aus. Wir tauschten bei ihnen Toilettenseife, Salbe gegen Geschwüre und Briefpapier ein.
Das ist nur scheinbar lustig, in Wirklichkeit passierte eins in den Schützengräben: Es wurde verreckt. Und die eigenen Leute wurden verheizt in immer neuen sinnlosen Angriffswellen, was zu immer mehr Toten im Niemandsland führte, die dann eben so rumlagen (man muß sich vorstellen, daß die sowjetischen und deutschen Schützengräben teils nur 150 Meter auseinander lagen.
Als die Deutschen dann anfingen, die Leichen wegzuräumen, wurde uns befohlen, auf sie zu schießen, aber ehrlich gesagt, wir haben nicht geschossen, und selbst wenn wir schossen, dann eher nach oben, um Krach zu machen, denn wir waren ihnen dankbar, dass sie diese verwesende Masse wegschleppten.
Da ist kein Heldentum, nirgends.
Der Krieg verläßt Rußland, Leningrad wurde für einen irren Preis gehalten. Paris zum Beispiel wurde zur offenen Stadt erklärt, die Wehrmacht ist einfach reinmarschiert. Hitler wollte Leningrad nicht erobern, er wollte es durch Hunger auslöschen. Die Wehrmacht hätte Leningrad erobern können.
Granin geht nicht weiter mit seiner Panzerbrigade, sondern er wird demobilisiert und kehrt zu seiner Frau zurück.
Und hier fängt der zweite Teil an: Er ist Mitte 20 und gebrochen. Er säuft, geht fremd, kommt tagelang nicht nach Hause, wobei dieses “Zuhause” irgendein Rattenloch ist, das er, seine Frau und das Kind teilen müssen. Es ist nach dem Krieg und vor Stalins Tod. Es werden noch immer Menschen unter absurdesten Vorwürfen gefangen genommen, deportiert, ermordet. All das beschreibt Granin nüchtern, als Zeitzeuge.
Im Epilog dann redet er mit einem Deutschen, lädt ihn sogar zu sich nach Hause in die Küche ein. Das ist ein versöhnlicher Ausklang.
Und: Das ganze Buch durchzieht wie ein Geruch, den man nur ab und an wahrnimmt, der dann aber vertraut ist: eine unendliche Liebeserklärung an seine Frau.
Aber nun hatte sie seinen Kopf an sich gedrückt, er legte die Arme um sie, schmiegte sich an, und all das war zu Ende. Was bedeutete es schon, wenn es das hier gab, man konnte es für immer vergessen, wenn sie nur zusammen waren. Sie saßen beim Abendbrot, D. sah sie an, er konnte zuschauen, wie sie immer schöner wurde, wie sich ihre Wangen röteten, die Haare zu glänzen begannen.
Dieses Buch gehört unbedingt zu denen, die ich auf eine Insel mitnehmen würde.
Leseempfehlung? Natürlich!
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