Das Titelbild zeigt es schon: Es geht um Bücher. Ich habe noch vier Tage Resturlaub aus 2019, da kann ich ja lesen 🙂
Wer bei dem Titel einen Krimi erwartet, auch einen anspruchsvollen, der wird enttäuscht werden. Zwar sind zum Schluß zwei Menschen tot — aber ein Krimi ist es überhaupt nicht. Der Roman ist in drei Teile gegliedert: Im ersten wird die Geschichte des Dresdner Antiquars Norbert Paulini von seiner Geburt in den 50-ern bis ins Heute. Und dieser Teil (und damit der Roman) führt schon wunderbar in eine Geschichte ein:
Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar,
So fangen Geschichten an, die von fernen Zeiten erzählen. Und seine Geschichte ist aberwitzig, aber nicht undenkbar: Paulini ist ein Leser und Bücherliebhaber. Bücher sind dabei physisch zu verstehen: Es geht um Erstausgaben, besonders schön illustrierte oder besonders schön gebundene Ausgaben, solche mit und solche ohne Schutzumschlag, seltene und noch seltenere Bücher. Und er kann sie alle besorgen. Er hat ein Antiquariat (das scheint in der DDR gar nicht so schwierig gewesen zu sein) und kauft und verkauft eben alte Bücher. Wobei das Verkaufen eher schmerzvoll ist, er hängt an den Büchern (und versucht zumindest, sie alle zu lesen). Seine Kundschaft besteht aus Gelehrten, Künstlern, Schriftstellern — schon ein exklusiver Kreis. Es entwickelt sich nebenbei ein Salon, zu dem man eingeladen werden muß. Der Erzähler, noch Schüler, bekommt irgendwann über einen Archäologen auch eine Einladung und ist fortan Paulinis Protegé.
So könnte es in alle Ewigkeit weitergehen: Paulini wird zwar nicht reich (was ihn auch wirklich überhaupt nicht interessiert), hat aber seine Bücher, die er alle zu lesen versucht und die er manchmal auch verkauft; auch Antiquare müssen essen.
Nach der Wende, Stück für Stück, funktioniert das nicht mehr. Zuerst bleiben die Kunden weg, dann wird die Villa, in der sich das Antiquariat befindet, von Alteigentümern zurückgefordert, seine Frau beichtet, für die Stasi gespitzelt zu haben, zuletzt kommt noch das Elbehochwasser von 2002, das ihm größere Teile seines Bestandes zerstört. Mit dem Rest (der immer noch riesig ist) wandert Paulini ins Dresdner Umland.
Dann endet der erste Teil abrupt, mitten in einem Satz.
Im zweiten Teil erzählt der fiktive Schriftsteller Schultze(!), der eine Paulini-Biographie schreiben möchte (und mit dem Erzähler aus dem ersten Teil identisch ist), über die Arbeit an dieser Biographie. Die Sache ist schon dadurch vertrackt, daß er eben Paulinis Protegé ist, hinzu kommt noch, daß er und der Antiquar mit derselben Frau ein Verhältnis haben. Dieser zweite Teil ist eher Selbstbeschau des Schriftstellers und hat wenig Handlung. aber es ist fesselnd zu lesen, wie die beiden quasi umeinander tanzen.
Der dritte Teil dann schlägt nochmals eine Volte: Hier erzählt Schultzes Lektorin, wie sie versucht, das Verhältnis zwischen ihm und Paulini zu verstehen, mit all den Eifersüchteleien, Neiden, manchmal könnte man fast einen Vater-Sohn-Konflikt vermuten. Und zwischendurch, so selten wie unvermittelt, kommen auf einmal Sprüche von Paulini, die man eher Pegida-Demonstranten als einem Büchergelehrten zutraut. Da passiert, wie gesagt, sehr selten, steht dann aber völlig erratisch im Romantext. Es wird auch nicht erklärt, wie Paulini dazu gekommen ist.
Erst in diesem dritten Teil erfahren wir, daß Paulini und seine Geliebte tot sind, abgestürzt von einem Felsen in der sächsischen Schweiz. Ob Unfall, gemeinsamer Selbstmord, Mord — das bleibt offen und ist auch nicht Gegenstand des Romans (der Leser darf natürlich weiterdenken, Schulze hat genügend Futter ausgelegt)
Zum Titel vermag ich nichts zu sagen. Er deutet auf Mord hin, aber wie schon geschrieben: darum gehts gar nicht.
Die Konstruktion des Romans mit den drei verschränkten Teilen ist raffiniert. Der erste, der auch der größte ist, liest sich fluffig weg, der zweite ist eher kontemplativ, der dritte nimmt dann wieder Erzählgeschwindigkeit auf.
Was mir aufgefallen ist: Schulzes Präzision bis in kleinste unbedeutende Details. Sowas:
Hildegard Kossakowski hatte ihm einst auferlegt, den »Abriß griechischer und römischer Kunst« zu lesen. Scheffel unterrichtete ihn mit weit ausgreifenden Exkursen, die stets die erteilten Suchaufträge begleiteten. Wirklich gelesen aber hatte er nur einige Standardwerke. Doch das reichte schon, um zu erkennen, welchen Schatz es zu heben galt. Wäre nur nicht der Zigarrengestank.
Nun, es geht um dieses Büchlein, das Standardwerk für Studenten der Klassischen Archäologie in der DDR. Und sein Autor hatte ein zigarrenrauchgetränktes Arbeitszimmer im Institut (und bot übrigens in Seminaren allen Studenten Zigarren an) Dieses Zitat verstehen vielleicht 2 Dutzend Menschen auf der Welt, wenn sie denn überhaupt das Buch lesen. Und ähnlich gelagerte Passagen dürfte es noch viel mehr geben. Das ist kein Spielen bei Schulze des Effektes wegen, das gehört einfach zu seinem Leben. Hat mir sehr gefallen.
Stil und Sprache: Schulze beobachtet sehr präzise und hat ein phänomenales Gedächtnis. Die Beschreibung Dresdens dürfte viele gebürtige Dresdner entzücken. Und so schreibt er auch: präzise und klar, ohne Gedöns. Wie Gould Bach spielt. Nichts Ausschweifendes, immer auf den Punkt. Und liest sich dabei doch gut weg. (Und an manchen Stellen lugt ein Schalk um die Ecke…)
Ein Buch auch über Ost und West, über Frauen und Männer, Berlin und vor allem Dresden — und: Bildung. Bildung scheint mir das Hauptthema zu sein, nur daß Schulze das nirgendwo rauskehrt.
Ein gutes Buch.
Im ebook hätte ich mir X‑Ray gewünscht, auch wenn der Personenkreis vergleichsweise übersichtlich ist.
Kaufempfehlung? Absolut!
#ausgelesen